Henri-Frédéric Amiel 1821–1881

Am 27. September 1821 in Genf geboren, wurde Henri-Frédéric Amiel nach dem frühen Tod seiner Eltern von Verwandten aufgezogen und studierte nach der Matura in Genf, Heidelberg und Berlin, um 1854 Professor für französische Literatur an der Universität Genf zu werden. Er schrieb Sachbücher und einen Roman über Karl den Kühnen, blieb zeitlebens Junggeselle, und als er am 11. Mai 1881 starb, waren seine bekanntesten Werke die französische Fassung von «Rufst du, mein Vaterland» und das Kriegslied «Roulez, tambours». 1882 aber schickte Amiels Vertraute Fanny Mercier dem Pariser Literaturkritiker Edmond Schérer ein Heft mit Abschriften aus einem Tagebuch, das sich im Nachlass fand. «Schicken Sie, so viel sie können», antwortete Schérer, als er eine Nacht darüber gebrütet hatte. Was ihm da vorlag, zeigte ihm den toten Freund in einem ganz neuen, sensationellen Licht. Während «tout Genève» sich über den trockenen Gelehrten mokiert hatte, war er Tag für Tag vor den Heften eines ins Uferlose wachsenden «Journal intime» gesessen und hatte, obschon oder gerade weil sein privates und berufliches Scheitern Gegenstand des Nachsinnens war, dem menschlichen Denken und Fühlen in bisher unerschlossene Tiefen hinein nachgespürt. Auch wenn die Auswahl, die Schérer noch 1882 herausgab, streng zensuriert und beschönigt war, machte sie Amiel innert kurzer Zeit berühmt. Sein «Journal» galt bald schon als Schlüsseldokument für den Zerfall des bürgerlichen Zeitalters im Zeichen des Fin de Siècle, Nietzsche und Hofmannsthal bewunderten es, Tolstoi war erschüttert von der Tiefe des Inhalts, der Schönheit der Darlegung, hauptsächlich aber von der Aufrichtigkeit des Buches und brachte es auf Russisch heraus. Je mehr vom authentischen Text zugänglich wurde – 1923, 1927, 1948 und 1959 erschienen gewichtige Teile –, desto deutlicher zeigte sich, dass Amiels Selbstbefragung die geistigen Dimensionen des 19. Jahrhunderts bei Weitem sprengte. Endgültig sichtbar wurde dies aber erst, als Vladimir Dimitrijevic das «Journal intime» zwischen 1976 und 1994 im Lausanner Verlag L’Age d’Homme in einer von Bernard Gagnebin und Philippe M. Monnier betreuten 12-bändigen, 16 000 Seiten umfassenden Edition vollständig publizierte. Noch nie habe ein Mensch einen so aussergewöhnlichen Versuch unternommen, «die Wahrheit über sich selbst zu sagen», so der französische Schriftsteller und Literaturkritiker Edmond Jaloux (1878–1949), und längst ist klar, dass Amiels Tagebuch zu den grossen Werken der Weltliteratur zählt. Selbst wenn er in Sachen Political Correctness nachträglich nicht mehr zu belangen ist. So überraschend modern er in seinem Denkansatz ist, so zeitgebunden ist nämlich seine Ansicht über die Rolle der Frau. Hunderte von möglichen Heiratskandidatinnen «überprüft» er im «Journal», mit einer einzigen, der berühmten Philine, verbringt er, 39-jährig, eine Nacht – um sich ernüchtert abzuwenden und Junggeselle zu bleiben! Der Mann, der wie kein anderer die Einsamkeit und das Versagen analysierte, bezeichnete in besonders zynischen Momenten das calvinistische Genf als seine Ehefrau. Um einmal hinzuzufügen: «Als ich mich mit Genf verheiratete, heiratete ich den Tod, den Tod meines Talents und meiner Freude.» Da hätte er sich vielleicht doch besser mit seiner Philine arrangiert, die derart bedingungslos in den spröden Hypochonder verliebt war, dass sie nach zwölf Jahren Bekanntschaft nur noch den einen Wunsch hatte: «Quinze jours avec vous et mourir!»