Lore Berger 1921–1943

Die Schweizer Bestseller 1943 waren «Herzen im Krieg» von Rösy von Känel und «Katharina und die russische Seele» von Mary Lavater-Sloman. Und kein Mensch ahnte, dass in jenem Jahr auch ein Buch entstand, das den verlogenen Optimismus der geistigen Landesverteidigung Lügen strafte und mehr vom damaligen Lebensgefühl preisgab als alle Bestseller zusammen. Es hiess «Der barmherzige Hügel. Eine Geschichte gegen Thomas», berichtete in Form eines Briefes an ebendiesen Thomas vom Unglücklichsein einer jungen Baslerin, von ihrem Leiden an der Zeit und an sich selbst, thematisierte die Sehnsucht nach dem vollen, ungehemmten Leben und pries den Tod als eine Erlösung von ebendieser Sehnsucht, die in der Landschaft des Bruderholz am reinsten, wehmütigsten zu spüren war. Der Roman hätte nicht mal beim Jekami-Romanwettbewerb der Büchergilde eine Chance gehabt, wenn die Autorin dem anonym eingereichten Text nicht ein erschütterndes Fanal hinterhergeschickt hätte. Am 14. August 1943, drei Wochen nach Absendung des Typoskripts, stürzte sie sich vom Wasserturm auf dem Bruderholz in den Tod und vollzog damit, was sie im Roman eine gewisse Bea hatte tun lassen: «Und es löste sich etwas vom Steingeländer, etwas fiel, fiel – ich schrie nicht und sagte nichts. Ich hoffte nur, es möge niemand dasselbe gesehen haben wie ich, und es möchte nicht – aber ich hatte ihren Mantel erkannt. Und dann kamen fremde Leute, Spaziergänger – und sagten es und brachten sie.» Als die Jury am 13. November 1943 in Zürich tagte, kannte sie die Identität der Autorin – es handelte sich um die Basler Lehrertochter Lore Berger, geboren am 17. Dezember 1921 –, wusste von ihrem Suizid und empfahl ihren Roman, sei's aus Pietät, sei's, weil die in dem Gremium einsitzenden Verlagsvertreter ein Geschäft witterten, für den Gilden-Jahrgang 1944 zum Druck. Lore Berger hatte drei Semester Germanistik studiert, ein paar Zeitungsfeuilletons und eine Serie Kindergeschichten in der «Schweizer Hausfrau» publiziert, aber niemand hatte eine Ahnung, dass sie im Frauenhilfsdienst (FHD) der Schweizer Armee beim Territorialgericht 2B zwischen Februar 1942 und Juni 1943 auf die Rückseite von Gerichtsprotokollen heimlich einen Roman geschrieben hatte. 250 Seiten, auf denen sie eine gescheiterte Romanze von 1938, ihre – ursächlich damit zusammenhängende – Magersucht und das Basler Gesellschafts- und Studentenleben der ersten Kriegsjahre teils lyrisch-poetisch, teils ironisch-sarkastisch, auf jeden Fall aber literarisch gekonnt umsetzte. Dass der treulose Liebhaber von 1938 der Grund für Lore Bergers Selbstmord gewesen sein könnte, wie es ihr Vater mit der Grabschrift «Amor morte fortior» («Die Liebe ist stärker als der Tod») supponierte, ist aber eher unwahrscheinlich. 1942/43 war sie wieder verlobt, und ihr Todeswunsch erwuchs wohl eher aus der Erfahrung einer dumpfen, unfreien Zeit, dem Mangel an Verständnis im Elternhaus, einer qualvollen Einsamkeit und der Erkenntnis, dass das volle, beglückende Leben auf Erden nicht zu finden war. «Ich bin überzeugt», schrieb sie ins Tagebuch, «dass man erst im Tod, im Moment der Auflösung, satt wird.» Hermann Hesse fühlte ihre Verlorenheit, schrieb er ihrer Mutter doch 1944: «Ein einziger echter, wirklicher Mensch in diesem Kreise hätte vielleicht genügt, um sie nicht verzweifeln zu lassen.»

Lore Berger Roman «Der barmherzige Hügel» ist 1981 im Arche-Verlag, Zürich, mit einem biographischen Nachwort von Charles Linsmayer 37 Jahre nach der Erstausgabe neu erschienen und fand ein grosses Echo. 1999 kam der Roman, mit einem neuen Nachwort von Charles Linsmayer in einer neuen Ausgabe wieder heraus. Inzwischen war die erste Ausgabe auch als Taschenbuch und in französischer und italienischer Übersetzung erschienen. Aktuell greifbar ist der Roman seit 2017 als Band 35 der von Charles Linsmayer betreuten Edition «Reprinted by Huber» im Verlag Th. Gut, Zürich. Nebst einer 80-seitigen illustrierten Biographie der Autorin enthält der Band erstmals auch Lore Bergers intimes Tagebuch, das sie als 17jährige Gymnasiastin zu schreiben begonnen hatte und das ein sehr persönliches Licht auf den Roman wirft.