Jakob Bosshart

Am 18. Februar 1915 brachte die Ambulanz einen todkranken Patienten nach Clavadel: Dr. Jakob Bosshart, dreiundfünfzig, Rektor der Kantonsschule Zürich, bekannt als Dichter und Gestalter von kernigen Schweizer Bauernfiguren. Wie durch ein Wunder liess sich die Tuberkulose nochmals stoppen, und Bosshart blieb dank dauerndem Aufenthalt in Clavadel noch ganze acht Jahre am Leben. Eine Frist, die er in ein Unterfangen investierte, das im Widerspruch zu all seinem bisher Publizierten stand: In einer grossangelegten Trilogie wollte er mit seiner Epoche ins Gericht gehen und der Jugend einen Weg in die Zukunft weisen.
Der erste Teil erschien 1921 unter dem Titel Ein Rufer in der Wüste, der zweite und dritte, Jugendbund bzw. Aufbau, lagen bei Bossharts Tod 1924 erst in Umrissen vor und hätten das Schicksal junger Schweizer Pazifisten im Weltkrieg und auf dem Weg in eine neue Zeit darstellen sollen. Der erste, vollendete Teil aber ist die Geschichte des gescheiterten Idealisten Reinhart Stapfer, von Bosshart mit aussergewöhnlichem sozialem Scharfblick, aber bewusst ohne letzte künstlerische Raffinesse gestaltet. »Die Menschen müssen Gott retten, sonst ertrinken sie!« So lautet Reinhart Stapfers Botschaft. Aber bevor er sie in einem Buch verkünden kann, wird der Zürcher Fabrikantensohn von einem Vertreter ebenjener Armen und Entrechteten, für die er sich vom reichen Vater losgesagt und dem tätigen sozialen Engagement verschrieben hat, auf offener Strasse niedergeschlagen. Als er in einer Bauernstube stirbt und seine Utopie unformuliert mit ins Grab nimmt, kommt nebenan gleichzeitig ein Kind zur Welt. Das wird vielleicht in noch unbekannter Abwandlung zu erleben bekommen, was der vergebliche »Rufer« sich aus bürgerlicher Bildung und bäuerlichem Lebensgefühl heraus an Beglückend-Zukünftigem vorzustellen vermochte.
Dass die radikalen Träume einer jungen Generation im Zentrum von Bossharts Altersroman standen, war nicht Anbiederung an Modisches, sondern lebenslang erarbeitet. Seit dem Dramen-Entwurf Der Arbeiterführer von 1892 jedenfalls hatte er den Stoff zum Rufer bei aller Bauernschriftstellerei mit sich herumgetragen. Als ihm 1917 mit Der Friedensapostel erstmals eine aktuelle, sozial anklägerische Erzählung zum Thema Dienstverweigerung glückte, scheute Bosshart - immerhin Schwiegersohn eines Bundesrats! - die Veröffentlichung. Erst 1923, nachdem ihm der Rufer zwar den Gottfried-Keller-Preis, aber weder Protest noch Betroffenheit eingetragen hatte, publizierte er die Novelle zusammen mit anderen gesellschaftskritischen Texten und mit ebenso aufwühlenden Holzschnitten von E. L. Kirchner.
Neben der Heerstrasse wurde sein letztes Buch, und Felix Moeschlin blieb - so unheimlich kann die Fama einen Dichter auf dem einmal eingeschlagenen Weg festhalten - unwidersprochen, als er Bosshart daraufhin in der Lesezirkel-Zeitschrift schmeichelte: »In seinem Wesen ist immer noch ungebrochen, als wie durch ein Wunder sichtbar und spürbar, jenes Schweizertum, das mit dem Zweihänder nach Marignano gezogen ist. «

Fritz Hunzikers Bosshart-Werkausgabe von 1950/52 ist seit 1988 als Reprint des Orell-Füssli-Verlags, Zürich, wieder greifbar. «Ein Rufer in der Wüste» erschien, eingeführt von Martin Stern, 1982 auch in der Ex Libris-Edition »Frühling der Gegenwart«.
(Literaturszene Schweiz)

Bosshart, Jakob,

*Stürzikon (ZH) 7.8.1862, Clavadel (GR) 18.2.1924, Schriftsteller. Nach der Primarlehrerausbildung in Küsnacht, versch. Auslandaufenthalten und Abschluss der Studien an der Univ. Zürich (1887, Dr. phil.) unterrichtete B. am Zürcher Gymnasium, wo er 1899 auch Rektor wurde. Als Schriftsteller debütierte er 1898 mit dem Erzählband »Im Nebel«: düsteren, wenn auch sprachl. virtuosen Bauerngeschichten. Die Arbeiten der folgenden Jahre trugen dazu bei, dass B. bald zu den bekanntesten Vertretern der damals im dt. Sprachraum sehr beliebten Schweizer Heimatliteratur zählte. Eine schwere Lungenkrankheit zwang B. zur Aufgabe des Lehramts und zum Rückzug nach Clavadel. Seit 1915 wandte er sich immer mehr einer gesellschaftl. engagierten, sozialist. Tendenzen nahestehenden Thematik zu. Höhepunkt dieser Entwicklung war der Roman »Ein Rufer in der Wüste« (1921), den er bei seinem Tod als einzigen vollendeten Band einer geplanten Trilogie hinterliess und der zugleich sein geistiges Vermächtnis bildet. B. stellt darin dar, wie der Industriellensohn Reinhart Stapfer am Vorabend des 1. Weltkriegs versucht, die soz. und polit. Gegensätze innerhalb der Schweizer Gesellschaft miteinander zu versöhnen. Stapfer, der zuletzt selbst ein Opfer der soz. Auseinandersetzungen wird – sein Freund David, ein Sozialist, bringt ihm tödl. Verletzungen bei –, sucht am Ende das Heil in der Erneuerung der bäuerl. Einfachheit und in der Abwendung von der städt. Zivilisation. - Ausgabe: Werke, hg. von F. Hunziker (5 Bde., 1950/51, 21988). … Lit.: Konzelmann, M.: J.B., Erlenbach 1929. (Schweizer Lexikon CH 91)

Bosshart, Jakob

* 7. 8. 1862 Stürzikon bei Winterthur, † 18. 2. 1924 Clavadel bei Davos; Grabstätte: Stürzikon, auf dem väterlichen Hof. - Lehrer, Erzähler, Romanautor.
Der Bauernsohn aus dem Zürcher Mittelland kam erst 1885 zur Aufnahme eines wissenschaftl. Studiums an der Universität Zürich, wo er 1887 mit einer sprachwissenschaftl. Arbeit zum Dr. phil. I promovierte. Nach einem Englandaufenthalt u. verschiedenen Aushilfsstellen begann er ab 1890 am Zürcher Gymnasium zu unterrichten, wo er neuartige Methoden des Französischunterrichts einführte u. 1899 zum Rektor gewählt wurde.
Ein Jahr zuvor hatte er mit dem Band Im Nebel (Lpz. 1898) als Schriftsteller debütiert. Mit den düsteren Texten, die vom aussichtslosen Kampf bäuerl. Menschen gegen ihr Schicksal handeln, entsprach B. zwar nur oberflächlich den Erwartungen des dt. Lesepublikums an einen »Schweizer Dichter«, sie genügten aber, um ihn auf das alpine, touristisch-relevante Bizarr-Schweizerische festzulegen, dem er dann mit seinen weiteren Büchern mehr oder weniger entsprach. Das Bergdorf (Lpz. 1900) u. Die Barettlitochter (Lpz. 1902) gestalten in histor. Gewand das Schicksal von eigenwilligen, innerlich unabhängigen Frauen. Beide Erzählungen spielen im von Jeremias Gottheit literarisch erschlossenen Gebiet des alten Bern. Im bäuerl. Milieu sind fast immer auch die Erzählungen angesiedelt, die B. 1903 u. 1910 in den beiden Novellenbänden Durch Schmerzen empor u. Früh vollendet bei Haessel in Leipzig publizieren ließ. Es sind »erschütternde ländliche Alltagstragödien« (Fritz Hunziker), die zwar die Bilder u. Motive der damals modischen Heimatliteratur verwenden, in
ihrer künstlerischen Durchformung u. im überzeitl. Gehalt aber weit über die Werke von Jakob Christoph Heer oder Ernst Zahn hinausragen, im Band Durch Schmerzen empor ist mit der Novelle Die alte Salome übrigens ein Kabinettstück von B.s Menschendarstellung enthalten.
Nicht nur die berufl. Tätigkeit - ab 1916 mußte er sich allmählich vom Schuldienst zurückziehen -, auch das schriftstellerische Schaffen wurde stark in Mitleidenschaft gezogen, als B. ab 1903 an Tuberkulose erkrankte u. von diesem Leiden trotz häufigem u. in den letzten Lebensjahren ständigem Aufenthalt in einem Höhensanatorium nie mehr loskam. Zunächst verstärkte sich aus der Erfahrung des körperl. Verfalls B.s Neigung zum Erdhaften, Bäuerlich-Bodenständigen nochmals: Die Novellen in den Bänden Erdschollen (Lpz. 1913) u. Opfer (Lpz. 1920) legen dafür beredtes Zeugnis ab. Unter dem Eindruck der Streikbewegung u. der sozialen Kämpfe im Zürich der Vorkriegszeit, v. a. aber durch den als gesellschaftl. Katastrophe empfundenen Ersten Weltkrieg wurde der ständig zwischen Leben u. Tod hin u. her gerissene Dichter zu einer radikalen Umkehr u. zu einer Rückbesinnung auf eine literarisch-polit. Richtung bewogen, die er schon 1892 mit dem unveröffentl. Drama Der Arbeiterführer eigentlich hatte einschlagen wollen: das kämpferische Aufbegehren gegen die niederschmetternden sozialen Konsequenzen der Industrialisierung u. der kapitalistischen, das Recht des Stärkeren postulierenden Wirtschaftsordnung. Deutlichen Ausdruck fand dieser Wandel in einer Reihe von anklägerischen, sozialkrit. Novellen, die in der Sammlung Neben der Heerstrasse (Zürich 1923; illustriert von Ernst Ludwig Kirchner) publiziert wurden; besonders bemerkenswert die beiden Erzählungen Wie Josua Grübler seinen Weg fand u. Der Friedensapostel. Ihren Höhepunkt fand B.s neue Tendenz im künstlerisch nicht restlos gelungenen, zeitgeschichtlich u. von der Idee her aber überzeugenden Roman Ein Rufer in der Wüste (Zürich 1921. Neu hg. von Charles Linsmayer in: Edition »Frühling der Gegenwart«. Zürich 1982). Das Buch sollte den Anfang einer - nicht mehr zustande gekommenen - Trilogie bilden (zum zweiten Teil, Der Jugendbund, existiert ein längerer Entwurf) u. stellt den zum Scheitern verurteilten Versuch des Industriellensohns Reinhart Stapfer dar, am Vorabend des Ersten Weltkriegs die sozialen u. polit. Gegensätze innerhalb der schweizerischen Gesellschaft zu versöhnen. Stapfer, der alle zeitgenöss. Lösungsversuche der Reihe nach prüft u. schließlich die Rückkehr zu bäuerl. Einfachheit fordert, bleibt ein einsamer Rufer in der Wüste u. stirbt nach einem durch den sozialistischen Jugendfreund David verübten Attentat auf dem Bauerngut seiner Vorfahren just in dem Moment, als die Welt in den Schmelzofen des Krieges hineingerät. Die Hoffnung aber geht auf den neuen Menschen über, der in derselben Stunde auf dem Golsterhof zur Welt kommt. Im Gegensatz zu Meinrad Inglin, der in seinem Roman Schweizerspiegel (1938) die gleiche Epoche der schweizerischen Geschichte darstellte, vermied es B., über die Hoffnungen u. Ideen der Zeit aus bürgerl.
Sicht ein Urteil zu fällen.
AUSGABEN: Erzählungen. 5 Bde., Lpz. 1913. - Erzählungen. 6 Bde., Lpz. 1919-21. -
Werke in 6 Bdn. Frauenfeld 1950/51. Neudr. Zürich 1988.
LITERATUR: Berta Huber-Bindschedler: J. B. In: Die Schweiz im dt. Geistesleben. Frauenfeld 1929. - Max Konzelmann: J. B. Eine Biogr. Erlenbach/Lpz. 1919. - Fritz Hunziker: J. B. Nachw. zu den Werken in 6 Bdn. Frauenfeld 1951.- Martin Stern: J. B. Nachw. zu &Mac221;Ein Rufer in der Wüste&Mac220;. In: Edition &Mac221;Frühling der Gegenwart&Mac220;, a.a.O. - Karl Fehr: J. B. In: Küsnachter Jahresblätter (1986).