«Kleine Skizzen von kleinen Leuten»nannte sich bescheiden das Buch, mit dem der Francke-Verlag im Herbst 1910 einen neuen Autor vorstellte: Jakob Bührer, achtundzwanzig, Redaktor am «Berner Intelligenzblatt». «Etwas Satire, etwas Ironie, vor allem aber poetisch verklärte Schwermut», konstatierte Maria Waser an Bührers «feinen kleinen Charakterstudien, die zumeist das Thema von der Tragik der Deplazierten im Leben behandeln.»
Dass da mitten in der Hochblüte der Schweizer Heimat-, Berg- und Bauernliteratur auf einmal ein Buch auftauchte, das die ganz und gar nicht idyllische Welt der proletarischen Schaffhauser Webergasse zum Milieu hatte, ein Buch, das auf Baustellen und Grütlianerversammlungen spielte, das ein Dienstmädchen, eine Kellnerin und sogar einen sozial motivierten Brandstifter literaturfähig machte – das bedeutete nicht einfach, dass da ein Literat sich einem neuen originellen Sujet naturalistischer Art zugewandt hatte. Nein, hier trat ein Autor auf den Plan, der aus innerer Erschütterung und persönlichen Erlebnissen heraus ohne Schönfärberei und Verklärung das Leid und die Not von Unterprivilegierten literarisch publik machen wollte.
Bührers Erstling ist kein Meisterwerk, aber es ist darin bereits vieles von dem enthalten, was sein Schaffen als Erzähler, Lyriker und Dramatiker ein langes Leben lang – er starb mit 93 Jahren – auszeichnen sollte. Da sind einmal, auffällig genug, die tüchtigen emanzipierten Frauengestalten, die alle etwas von Bührers Mutter mitbekommen haben – jener Frau, die ihrem Buben mit Waschen und Putzen als einzigem «Webergässler» den Besuch der Realschule ermöglichte. Daneben finden sich die unverbesserlichsten Spiesser, aber auch schon die nach Versöhnung der Klassen strebenden jungen Menschen; ja es tauchen bereits all die bohrenden Fragen nach Ursache und Lösung von sozialen Problemen auf, und nicht zuletzt tritt, als »weisse Stadt« z. B., bereits eine soziale Utopie in Ercheinung, um die Bührer zeitlebens ringen sollte: von «Brich auf!»und«Kilian»(1921/22) bis zum mutigen «Sturm über Stifflis»von 1934, ja bis zur grossen Trilogie «Im roten Feld» von 1938 bis 1951.
Aber schon von Bührers Erstling gilt, was für sein Werk insgesamt Gültigkeit bekommen sollte: dass es sich nicht unter einen Nenner bringen lässt! Bührer ist weder Philosoph mit Lehrgebäude noch Dichter mit unanfechtbarem Formgefühl. Seine Grösse ist das Engagement, der Einsatz für das, was er für human und sozial hält. Mit ästhetischen Kategorien liess und lässt er sich leicht «fertigmachen», mit menschlichen nicht! So sind seine Werke Zeitdokumente, die aktuell geblieben sind, und nicht zeitlose Kunstwerke für Ästheten. Für die nachfolgenden Schriftstellergenerationen aber liegt Bührers Bedeutung in dem, was Hansjörg Schneider ihm 1972 zurief. «Ich lernte bei Ihnen, dass es besser ist, literarisch schlecht zu schreiben, als die Wahrheit zu verschweigen oder gar zu lügen.»
(Aus «Literaturszene Schweiz», 1989)

Artikel Bührer aus Bertelsmanns Literaturlexikon Ausgabe 1991

Bührer, (Hans) Jakob, * 8. 11. 1882 Zürich, † 22. 11. 1975 Locarno; Grabstätte: Verscio/Tessin. - Journalist, Romanautor u. Dramatiker.
Der Sohn eines Buchdruckers u. einer Bauerntochter wuchs in der «Armeleutegasse» von Schaffhausen auf, wohin die Eltern kurz nach seiner Geburt gezogen waren. Nach dem Besuch der Primar- u. Realschule absolvierte er eine kaufmänn. Lehre, schrieb aber bereits Theaterkritiken u. Erzählungen für Lokalzeitungen. 1901 besuchte er an einem privaten Berliner Institut einen Journalistenkurs u. schrieb sich ab 1902 als freier Hörer an der Universität Zürich ein. Zwischen 1904 und 1917 war B., der 1912 auch zu den Mitbegründern des Schweizerischen Schriftsteller-Vereins gehörte, Redaktor verschiedener Zeitungen in Wädenswil, Münsingen u. Bern.
1910 erschien in Bern sein erstes Buch, das die Erfahrungen der armseligen Kindheit in der Schaffhauser Webergasse spiegelt: «Kleine Skizzen von kleinen Leuten». B. setzte sich in der Folge theoretisch, organisatorisch u. als Autor von Bühnenstücken für die Schaffung eines eigenständigen, national orientierten schweizerischen Theaterwesens ein. 1914 führte er auf der Schweizerischen Landesausstellung in Bern mit einer Laienspielgruppe seinen Einakter «Die Nase» auf, das erste Stück des späteren Kabarettprogramms «Das Volk der Hirten» (Zürich 1925. 1935), mit dem B. und sein Tourneetheater «Freie Bühne 1917–1923 langanhaltenden Erfolg hatten. Unterdessen von Bern nach Zürich übergesiedelt, gab B. im Auftrag der Neuen Helvetischen Gesellschaft eine weitverbreitete Sonntagsbeilage für Tageszeitungen heraus. 1917 erschien bei Francke in Bern sein erster Roman, «Aus Konrad Sulzers Tagebuch». Er darf als B.s geschlossenste u. literarisch gelungenste Arbeit gelten u. beschreibt, unverkennbar autobiographisch, wie ein Proletarierkind sich bürgerl. Bildung u. eine Stimme als Publizist u. Schriftsteller erkämpft, ohne seinen Idealismus u. seinen klassenkämpferischen Impetus preiszugeben.
Nach dem Scheitern der »Freien Bühne« nahm B., der seit 1923 in zweiter Ehe mit der Basler Schriftstellerin Elisabeth Thommen (1888-1960) verheiratet
war, eine Stelle als Propagandachef für den Kurort Davos an. 1926/27 versuchte er sich mit «Thomas Brack, der Gehilfe des Sternenfliegers» u. «Andrina Orsetta» (beide Werke erschienen nur als Fortsetzungsromane) mit wenig Glück als Verfasser von utopischen Romanen. Einigen Erfolg brachte ihm hingegen 1927 die Uraufführung seines «Neuen Tellenspiels» (Uster 1923. Zürich 1987) am Schauspielhaus Zürich. Nach einer Amerikareise u. einer dreimonatigen Tätigkeit als Zeitungskorrespondent in London ließ sich B. 1930 mit Mitteln eines Mäzens in Feldmeilen am Zürichsee nieder. Mit den drei Romanen «Man kann nicht...» (Zürich 1930), «Sturm über Stifflis» (Zürich 1934) u. «Das letzte Wort» (Zürich 1935) setzte sich B. engagiert mit der aktuellen wirtschaftl., sozialen u. polit. Lage der damaligen Schweiz auseinander u. stellte sich v. a. in «Sturm über Stifflis» entschieden gegen den schweizerischen Frontismus. Bereits 1932 war B., nachdem in Genf 13 demonstrierende Arbeiter von der Armee niedergeschossen worden waren, öffentlich zur Sozialistischen Partei übergetreten u. hatte damit seine Arbeitsmöglichkeiten bei den bürgerl. Zeitungen eingebüßt. In der Folge beschränkte sich seine journalistische Tätigkeit auf die sozialistische Parteipresse, während sein literar. Werk praktisch ausschließlich bei der parteieigenen Büchergilde Gutenberg erschien, für die er auch als Lektor u. Übersetzer arbeitete.
Seit 1936 lebte B. mit seiner dritten Frau Emmy in Verscio bei Locarno, wo er sich stärker als bisher der Epik zuwandte. Im Tessin entstand 1936-1951 B.s erzählerisches Hauptwerk, die Trilogie «Im roten Feld» («Am Vorabend». Zürich 1938. «Morgendämmerung». Zürich 1944. «Die Ankunft». Zürich 1951. Das Fragment eines vierten, unvollendeten Teils wurde in der Werkausgabe 1987 in Bd. 12 veröffentlicht). B. will darin die Einwirkungen der Französischen Revolution auf die Schweiz aufzeigen u. Geschichte romanhaft «von unten her» beschreiben, aus der Sicht der Proletarier u. Zukurzgekommenen. Das Werk ist allerdings von sehr unterschiedlicher literar. Qualität u. leidet v. a. im zweiten u. dritten Band unter erheblichen kompositorischen u. stilist. Mängeln, die das ambitiöse Unternehmen als Ganzes in Frage stellen.
In der Zeit des kalten Krieges geriet B., der die polit. u. ideolog. Ansprüche von jeher über die literarischen gestellt hatte, zunehmend ins Abseits u. fand mit seinen Arbeiten kaum mehr Echo. Er erlebte es aber noch, daß seine Werke im Zuge der sog. 68er-Bewegung ihrer gesellschaftskritischen Positionen wegen wiederentdeckt wurden u. daß sich namhafte Autoren wie Max Frisch u. Adolf Muschg öffentlich zu ihm bekannten.

WEITERE WERKE: Werkausg. J. B. Hg. Dieter Zeller u. Christoph Siegrist. Basel 1975 ff. (bis 1988 erschienen 9 von 25 ursprüngl. geplanten Bdn.). -
Einzelwerke: «Landrat Broller». Bern 1912 (D.). – «Die Steinhauer Marie u. a. E.en aus Kriegs- u. Friedenszeiten». Bern 1916. Zürich 1940, 1987. – «Brich auf!». Bern 1921. Neu hg. v. Charles Linsmayer in Edition «Frühling der Gegenwart». Bd. 21, Zürich 1982 (R.). – «Kilian». Zürich 1922 (R.). – «Die sieben Liebhaber der Eveline Breitinger». Zürich 1924 (R.). – «Der Kaufmann von Zürich». Zürich 1928 (D.). – «Galileo Galilei». Zürich 1933 (D.). – «Judas Ischariot». Zürich 1945 (D.). – «Der Mann im Sumpf». Basel 1946 (D.). – «Die rote Mimmi». Elgg 1947 (D.). – «Die drei Gesch.n des Dschingis-Khan». Zürich 1949 (D.). – «Gotthard». Zürich 1952 (D.). – «Yolandas Vermächtnis». Zürich 1957 (R.). – «Kommt dann nicht der Tag?». Gerlafingen 1962 (L.). – «Eines tut not». Bern 1965 (L.). – «Das J.-B.-Lesebuch». Hg. Robert Bussmann u. Dieter Zeller. Basel 1977. – «Der Anarchist». Basel 1978 (E.en).

LITERATUR: Dieter Zeller (Hg.): J. B. zu Ehren. Eine Dokumentation. Basel 1975. – Ders.: J. B. Nachw. zu Charles Linsmayer (Hg.:) Aus Konrad Sulzers Tagebuch/Brich auf! Zürich 1982 – Ulrich Niederer: Geschichte des schweizerischen Schriftsteller-Verbandes : Kulturpolitik und individuelle Förderung: Jakob Bührer als Beispiel. Basel 1994.