Jonas Fränkel 1879-1965

«Ohne Freiheit kann der Geist nicht leben. Ein dem Staate versklavtes Volk wird kein Mehrer der Kultur sein. Das Dritte Reich ist eine Festung in dauerndem Belagerungsstand, die in ihrem Bereiche nur duldet, was ihren unmittelbaren Zwecken dient. Der Einzelne hat keine Verfügung über sich. Mit eiserner Hand leitet der Staat den Menschen durch das Leben, damit er ihm als willenloses Werkzeug dient.» Klarer als Jonas Fränkel hat in der Schweiz kein Zeitgenosse den Nationalsozialismus verdammt. Weshalb es ganz und gar unglaublich ist, dass die Schweiz diesen Philologen seines Judentums wegen kaltstellte, als lebte er im Dritten Reich. Als Will Vesper, Hitlers ergebendster Literat, 1936 in der «Neuen Literatur» forderte, die Gottfried-Keller-Ausgabe müsse «den störrischen Händen des jüdischen Herausgebers entwunden werden», rannte er in der Schweiz jedenfalls offene Türen ein. Er war unter helvetischen Fachgenossen von Anfang an verhasst gewesen, am 12.August 1889 in Krakaus geborene und am 4.Juni 1965 in Riedegg bei Thun verstorbene, seit 1909 als Privatdozent in Bern lebende Jonas Fränkel. Die Autorisation der Zürcher Regierung hatte er nur erhalten, weil die Editionen von Ermatinger, Maync und Nussberger wissenschaftlich indiskutabel waren. Zugang zum Keller-Nachlass bekam er aber auch dann erst, als er sich verpflichtete, Ermatingers Edition der Keller-Briefe nicht zu kritisieren! Fränkel arbeitete, durch dauernde Rechtsstreitigkeiten zermürbt, langsamer als seine Vorgänger – 1939 lagen von insgesamt 24 erst 17 Bände fertig vor –, aber er war sachlich derart unanfechtbar, dass man ihm nur mit persönlichen Angriffen beikommen konnte. 1912 bereits war er in Dominik Müllers Basler Zeitschrift «Der Samstag» als «Literaturjude» und «hergewehter Asiate» beschimpft worden, von dem man sich die grossen Schweizer Dichter nicht vermitteln lasse. Als 1933 im Reich der Antisemitismus hoffähig wurde, stellte man sich nicht etwa schützend vor den Beschimpften, sondern vollzog auf kaltem Weg, was der Führer befahl. Martin Bodmers «Corona» legte 1938 dem Heft mit dem Briefwechsel Keller-Vieweg einen Zettel bei, auf dem sie sich vom Herausgeber Fränkel distanzierte. Im Zürcher Kantonsrat fiel Regierungsrat Hafner 1941 über Fränkels mutiges Buch «Gottfried Kellers politische Sendung» her und zitierte das ominöse Wort von der «hebräischen Bosheit». Max Nussberger aber durfte im Mai1942 im Zürcher «Volksrecht» ungestraft schreiben, mit seiner Edition arbeite Fränkel «seit 20 Jahren daran, die Werke Kellers ins Hebräische zu übersetzen»! So kam denn alles, wie es kommen musste. Die Zürcher Regierung zwang Fränkel zum Verzicht auf die Herausgeberschaft und setzte 1942 den im Reich unverdächtigen Carl Helbling zu seinem Nachfolger ein. Und nicht viel anders erging es Fränkel mit der Spitteler-Werkausgabe, welche ihm der Dichter noch selbst übertragen hatte. Nach jahrelangen Intrigen betraute Bundesrat Etter 1944 nicht Fränkel, sondern dessen Gegenspieler Altwegg, Faesi und Bohnenblust mit der «ehrenvollen nationalen Aufgabe». 1927, es ging um die Benützung des Keller-Archivs durch Fränkel, befürwortete SSV-Präsident Moeschlin Karl Naef gegenüber die völlige Freigabe: «Sonst behält der Kerl schliesslich noch das moralische Recht auf seiner Seite.» – Eine Befürchtung, die sich voll bewahrheitet und der Schweizer Germanistik eine schwere, noch immer nicht abbezahlte Hypothek hinterlassen hat. Die Liste derer aber, die sich für Fränkel eingesetzt haben, liest sich im nachhinein wie die Ehrengalerie unbestechlicher Zeitgenossen der Kriegs- und Nachkriegsjahre: C.A. Loosli, Alfred Fankhauser, Otto Zinniker, Robert Mächler, Fritz Schwarz, Karl Adolf Laubscher, Rudolf Jakob Humm, Paul Schmid-Ammann, Werner Schmid, Xaver Schnieper.


Fränkel, Jonas
*Krakau (Polen) 12.8.1879, Hünibach (BE) 4.6.1965, Germanist. F. war seit 1909 PD, seit 1921 a.o. Prof. für dt. Literatur an der Univ. Bern. Der internat. anerkannte Philologe beriet C. Spitteler bei der Abfassung seiner letzten Werke freundschaftl. und wurde von diesem zum Biographen und Hg. seiner ges. Werke bestimmt. Ab 1926 konnte er im Auftrag der Zürcher Regierung auch mit der ersten wiss. Gesamtausgabe der Werke G. Kellers beginnen. Intrigen seiner schweiz. Konkurrenten sowie ein latenter Antisemitismus, der sich ab 1933 seiner jüd. Abstammung wegen gegen ihn auswirkte, verhinderten jedoch in einer Zeit geistiger Enge, dass F. seine Projekte realisieren konnte. Die Keller-Ausgabe wurde nach Abschluss von 17 Bde. 1942 C. Helbling übertragen, die Spitteler-Werkausgabe realisierten W. Altwegg, R. Faesi und G. Bohnenblust ab 1944 im Auftrag von BR P. Etter, der F. auf prozessualem Weg von der Aufgabe ausgeschlossen hatte. F., auch als Polemiker meisterhaft, verteidigte sich in versch. Schriften wie »Die Gottfried-Keller-Ausgabe und die Zürcher Regierung« (1942) oder »Spittelers Recht« (1946). Gültigsten Ausdruck fand seine engagierte Philologie 1939 in der gegen den Nat.-Soz. gerichteten Schrift »Gottfried Kellers polit. Sendung«. (Schweizer Lexikon CH 91)

Jonas Fränkel, Gottfried Keller und Carl Spitteler
Keller war für die Schweizer nicht seines «Martin Salander» und der darin enthaltenen bitterbösen Gesellschaftskritik zur nationalen Identifikationsfigur und zu einem Autor geworden, über dessen Einschätzung und Wertschätzung das Volk und die politischen Parteien aller Couleur mitzubestimmen sich das Recht nahmen. Womit die Schweizer Keller identifizierten, waren nebst dem Gemütswert des kleinwüchsigen, treu dem Staat dienenden und ab und zu eins über den Durst trinkenden Originals die Novelle «Das Fähnlein der sieben Aufrechten» mit ihrem gloriosen Schützenfest sowie «O mein Heimatland», das Lied, das bis zum Beginn des Popzeitalters ernsthaft im Gespräch stand, an Stelle des von «Rufst du mein Vaterland» oder (später) «Trittst im Morgenrot daher» schweizerische Nationalhymne zu werden. Und nicht viel anders verhielt es sich mit dem zweiten Dichter, den Jonas Fränkel als Herausgeber und potentieller Biograph bearbeitete, mit Carl Spitteler. Auch wenn der Dirigent Felix Weingartner ihn 1904, im Erscheinungsjahr des letzten Teils von «Olympischer Frühling», in Deutschland und Österreich zum «künstlerischen Ereignis» emporstilisiert hatte und Josef Viktor Widmann nicht müde wurde, im «Bund» und in den grossen Zeitungen Wiens seinen Jugendfreund und dessen artistische Epik als epochales literarisches Phänomen zu feiern («Gewaltig wie keiner mehr seit Goethe»), war dieser Spitteler zumindest bis 1914 ein Autor für Insider und einen kleinen Kreis Eingeweihter gewesen, für Insider bzw. für rückwärtsgewandte Idealisten, die mitten in der Umbruchzeit der Industrialisierung und der beginnenden Massenkultur eine gegen die Zerfallserscheinungen von Naturalismus und Moderne gerichtete Symbolfigur der überzeitlich ewigen, streng formgebundenen und traditionsverpflichteten idealistischen Dichtung in ihm sahen. Bis seine überraschende Rede «Unser Schweizer Standpunkt», gehalten am 14. Dezember 1914 vor der Sektion Zürich der «Neuen Helvetischen Gesellschaft», den Repräsentanten einer antikisierenden Epik über Nacht zum politischen Literaten stempelte und ihm – u. a. durch die Aktivitäten von Romain Rolland – als einem unerschrockenen (und ziemlich missverstandenen) Kämpen gegen den deutschen Imperialismus den Literaturnobelpreis des Jahres 1919 einbrachte. Von da an verhielt es sich mit Spitteler wie mit Gottfried Keller, und niemand, der einen schweizerischen literarischen Lehrstuhl innehatte oder auf einen solchen spekulierte, konnte es sich noch leisten, den zu internationalem Ruhm Gelangten zu ignorieren bzw. nicht wenigstens eine grundlegende wissenschaftliche Studie über ihn vorgelegt zu haben. Denn erklärungsbedürftig war er aller Euphorik und allen Festreden zum Trotz eben doch, der formversessene Olympier, und abgesehen vom ziemlich untypischen, gegen die schweizerische Behäbigkeit gerichteten, auf eigenen bitteren Erfahrungen basierenden Roman «Imago», den süsslichen «Mädchenfeinden» und der Ballade von den «jodelnden Schildwachen» las ihn ausserhalb des erwähnten Kreises nach wie vor kaum jemand.
Das aber hatte nicht zu interessieren, als Ende der dreissiger Jahre der katholisch-konservative Bundesrat Etter und seine geistige Landesverteidigung nationale Identifikationsfiguren für den schweizerischen Selbstbehauptungswillen brauchten. Wer war dazu besser geeignet als der einzige Literaturnobelpreisträger, den die Schweiz je hervorgebracht hatte und der 1914, in einem Moment höchster Bedrohung, für den Zusammenhalt des Landes eingetreten war? Dem Schweizerischen Schriftstellerverein, der 1914 unter Ernst Zahn eine zu Spitteler in extremem Gegensatz stehende prodeutsche Haltung eingenommen hatte, war es in taktisch kluger Zusammenarbeit zwischen dem ehemaligen Präsidenten Robert Faesi und dem aktuellen Vorsitzenden Felix Moeschlin gelungen, Spittelers Töchter zur Überantwortung des gesamten Nachlasses des 1924 Verewigten an die Eidgenossenschaft zu bewegen. Damit war der Weg zu einer nationalen Spitteler-Ausgabe aber noch nicht frei, hatte der Verblichene doch ärgerlicherweise ausdrücklich den jüdischen Privatdozenten Jonas Fränkel zu seinem Nachlassverwalter und Willensvollstrecker erklärt – und mit dem zusammen waren jene Professoren, die der Schriftstellerverein dem Bundesrat unter Vorgabe rein sachlicher, literaturpolitischer und nationaler Argumente als Herausgeber einer nationalen Spitteler-Gesamtausgabe empfahl, nach deren teilweise deprimierenden Erfahrungen mit ihren Gottfried-Keller-Bemühungen (Details folgen noch) niemals unter einen Hut bzw. an den Sitzungstisch einer Editorenkommission zu bringen.
Der Kampf um Spitteler war härter als erwartet und schwieriger zu gewinnen als derjenige um Gottfried Keller, aber zu des Dichters hundertstem Geburtstag konnte 1945, zwei Jahre, nachdem Fränkel die Gottfried-Keller-Ausgabe entrissen worden war, der erste Band der zehnbändigen «Gesammelten Werke» erscheinen. «In einer Zeit, in der Altes zusammenbricht und Neues in harten Geburtswehen liegt», hiess es in Philipp Etters Geleitwort, «haben Carl Spittelers urgewaltige Visionen der blutenden und leidenden, aber einer neuen Auferstehung harrenden Menschheit Wesentliches zu künden.»
Wer mehr als ein halbe Jahrhundert später auf diesen editorischen Effort zurückblickt und sich den Blick weder durch nationale noch durch bildungsphilisterliche noch durch opportunistische Gesichtspunkte trüben lässt, wird konstatieren müssen, dass der politisch-nationale Stellenwert des Verfassers von «Unser Schweizer Standpunkt» nicht, wie angestrebt, mit seinem Rang und seiner Bedeutung als Dichter zur Deckung gebracht werden konnte. Als Verfasser von mythologisierenden Epen ist Spitteler, Nobelpreis hin oder her, auch in den vergangenen fünfzig Jahren nicht zum Allgemeingut des schweizerischen Lesepublikums geworden, und angesichts der europäischen Integrationsbewegung, der sich die Schweiz auf Dauer nicht wird verweigern können, dürfte bald einmal auch die weitgehend als isolationistisch rezipierte politisch-nationale Dimension seines Denkens und Wirkens bloss noch von historischem Interesse sein.
Man könnte den einstmals hochgelobten Olympier ohne grosses Bedauern der Literaturgeschichtsschreibung überlassen und ernüchtert zur Tagesordnung übergehen, wäre da nicht noch ein mit der Spitteler-Rezeption unablösbar verbundenes Phänomen, das, mit hundert Fragezeichen versehen, unaufgearbeitet auf uns gekommen ist und das, sollte des Rätsels Lösung je gefunden werden, die ganze Angelegenheit in ein neues, völlig anderes Licht stellen könnte: die Kaltstellung des von Spitteler selbst als Nachlassverwalter, Herausgeber und Biograph vorgesehenen Jonas Fränkel bzw. die Folgen, die diese Aktion für die Werkausgabe, deren Rezeption und für die Einschätzung Spittelers durch die Nachwelt gehabt hat. Was wiederum von jenem anderen «Rausschmiss», demjenigen in Sachen Gottfried Keller, nicht isoliert gesehen werden kann.
So komplex der ganze Fall Keller/Spitteler/Fränkel ist, so unbestreitbar scheint er mit zwei schwer zu analysierenden und schwierig auszuleuchtenden Problemkreisen zusammenhängen: mit dem helvetischen Antisemitismus sowie mit dem Cliquenwesen und Konkurrenzneid unter den schweizerischen Professoren.
1913 schon, also noch zu Spittelers Lebzeiten, scheinen die Weichen, die am Ende zu Fränkels Ausbootung führten, auf fatale Weise gestellt gewesen zu sein. Damals, als Fränkel seinen Plan einer Spitteler–Biographie bekanntgab, verbreitete der «Semi-Kürschner», das berüchtigte antisemitische Literaturlexikon, einen Satz aus Dominik Müllers Basler Zeitschrift «Der Samstag», wo es am 6. April 1912 geheissen hatte: «Fränkel als solcher ist Wurst, aber ein Jude uns unsere grossen Dichter vermitteln! Merci vielmals!» So deutlich wurden die ehrbaren Professoren, Schriftstellervereinsfunktionäre, Juristen, Politiker und Beamte, die Fränkel in den zwanziger und dreissiger Jahren aufs Abstellgleis zu schieben suchten, sieht man von den eingangs zitierten Ausnahmen ab, natürlich nicht, weder im Falle Spittelers noch in demjenigen Gottfried Kellers.
Nein, Jonas Fränkel ist nicht als Jude beschimpft worden. Was ihm immer wieder angekreidet wurde, waren seine Schwerhörigkeit, sein «störrisches Wesen», seine Akribie und langsame Arbeitsweise und vor allem seine polemische Begabung, die ihm jede Menge Feinde geschaffen habe.
Wobei zumindest letzteres nicht unverständlich ist, wenn man seine kritischen Aufsätze Revue passieren lässt.
Jonas Fränkel war tatsächlich ein Polemiker von einer Schärfe, einer Treffsicherheit und einer argumentativen Virtuosität, wie es ihn in diesem Lande vor ihm nicht gegeben hat und wie es ihn leider, leider auch heute nicht mehr gibt. Und tatsächlich wird der tödliche Hass, mit dem ihn die Ordinarien von Zürich und Basel, Ermatinger und Nussberger, sowie deren Schüler, Freunde und Günstlinge verfolgten, nur verständlich, wenn man Fränkels kritische Essays über deren editorische und biographische Bemühungen kennt, in denen ihnen auf überzeugende und unwiderlegbare Weise jegliche Befähigung für ihr Tun abgesprochen worden ist. Eine Schlüsselrolle spielt dabei Fränkels Rezension von Ermatingers Neufassung von Jakob Baechtolds Keller–Biographie bzw. der ebenfalls von diesem neu herausgegebenen Keller-Briefe in den «Göttingischen gelehrten Anzeigen» vom Dezember 1916, in welcher Fränkel anhand von zahllosen, in ihrer Mehrheit geradezu lächerlichen Fehlern des Herausgebers und Biographen hieb- und stichfest nachweist, dass «die Neubearbeitung des Baechtoldschen Werkes» «in die Hände eines hierzu Nichtberufenen gelegt worden ist».
Was, welch ein Affront!, zum einen zur Folge hatte, dass die Zürcher Regierung den 1879 in Krakau geborenen, seit 1909 als Privatdozent in Bern lebenden Jonas Fränkel – und nicht Emil Ermatinger! – zum Herausgeber der grossen wissenschaftlichen Gottfried-Keller-Gesamtausgabe berief, zum andern aber auch zugleich das vorzeitige Ende von dessen akademischer Karriere bedeutete. Wo immer sich Fränkel, mehrfach von Carl Spitteler empfohlen und unterstützt, um eine Professur bewarb, wurde er «seines polemischen Temperaments wegen» abgewiesen, obwohl es damals kaum einen amtierenden Lehrstuhlinhaber gab, der ihm fachlich-wissenschaftlich das Wasser hätte reichen können. Was Fränkel, der in ebenso unschweizerischer wie undiplomatischer Weise frank und ohne Rücksicht auf Verluste alles, was er für richtig erkannt hatte, offen heraussagte, nicht hinderte, weiterhin kritisch tätig zu sein. Am brillantesten, vernichtendsten und folgenreichsten im Jahre 1928 im 29. Band der Zeitschrift «Euphorion», wo er die Keller-Ausgaben der Professoren Emil Ermatinger (Zürich), Max Nussberger (Basel) und Harry Maync (Bern) derart materialreich und überzeugend als dilettantische Fehlleistungen entlarvte, dass die philologische Kompetenz und die berufliche Reputation der selbsternannten Keller-Spezialisten für Eingeweihte endgültig kompromittiert war. Die Konsequenzen – natürlich nicht für die wohlbestellten beamteten Professoren, sondern für den schonungslos offenen Kritiker – sind bekannt und gipfelten nach einer jahrelangen Hetzkampagne in eben jenem Entscheid der Zürcher Regierung von 1942, Fränkel nach der Fertigstellung von 17 philologisch einwandfreien Bänden zum Verzicht auf die Herausgeberschaft an der Gottfried-Keller-Ausgabe zu zwingen und den im Reich unverdächtigen Zürcher Gymnasiallehrer Carl Helbling zu seinem Nachfolger einzusetzen. Und 1944 dann betraute Bundesrat Etter, wir wir ebenfalls schon wissen, nicht Fränkel, sondern dessen Gegenspieler Wilhelm Altwegg, Robert Faesi und Gottfried Bohnenblust mit der «ehrenvollen nationalen Aufgabe» der Spitteler-Gesamtausgabe.
Spitteler hatte keine testamentarische Verfügung über eine Gesamtausgabe seiner Werke hinterlassen – welcher Autor würde das schon tun! –, aber es gibt eine Unzahl unzweideutiger Aussagen des Tenors von ihm, dass er niemand anderen als den Mann, der schon zu Lebzeiten sein Famulus und Assistent war, in dieser Rolle bestellt wissen wollte. So schrieb er, um nur ein einziges, direkt auf das Thema Werkausgabe Bezug nehmendes Beispiel herauszugreifen, am 22. Juni 1922, als Zürcher Literatenkreise versuchten, im Zusammenhang mit der vom Verlag Eugen Diedrichs vorgelegten Werkausgabe einen Gegensatz zwischen ihm und Fränkel zu konstruieren, in einer Erklärung in der NZZ: «Gerüchten gegenüber, als ob in Sachen meiner ‘Gesamtausgebe’ Jonas Fränkel eigenmächtig vorgegangen wäre, im Gegensatz zu mir, erachte ich es als meine Pflicht festzustellen, dass mein Freund Jonas Fränkel in meiner Angelegenheit niemals etwas ohne meine Zustimmung unternimmt, und dass er auch in vorliegendem Falle eine Einwilligung eingcholt hatte... Eines freilich habe ich Jonas Fränkel vorzuwerfen, dass ich bei diesem Anlass aussprechen will: Er, der seit mehr als einem Jahrzehnt all sein Dichten und Trachten, alle seine Mühen und Sorgen in den Dienst seiner Freundschaft zu mir gestellt hat, der in seinem Eifer für mich sogar davor nicht zurückschreckt, sich meinetwegen mit aller Welt zu überwerfen, erlaubt mir nicht, ihm für das alles den mindesten Entgelt oder Gegendienst zu bieten, so dass meine Dankesschuld, längst schon flnermesslich, sich von Jahr zu Jahr höher anhäuft.»
Als die Spitteler-Werkausgabe beendet bzw. die sieben zu den 17 von ihm betreuten noch hinzugekommenen Bände der Gottfried-Keller–Ausgabe erschienen waren, rettete Fränkel sich nicht in die Resignation, sondern besprach 1954 im «Euphorion» auch diese Editionsarbeiten mit der bekannten Unerbittlichkeit und Präzision. Und wie in den früheren Fällen wurde auch diese Kritik, die den beiden Publikationen auf unwiderlegbare Weise die schlimmstdenkbaren Fehler und Versäumnisse nachweisen konnte, von den Betroffenen demonstrativ ignoriert. Aber auch sonst wurden Fränkels Einwände kaum irgendwo zur Kenntnis genommen, liess die Fama von seinem unbezähmbaren polemischen Naturell es doch nur als selbstverständlich und psychologisch verständlich erscheinen, dass der unterlegene Kandidat nun das Werk seiner glücklicheren Rivalen zu zerzausen suchte. Die Sachlage ist, wie gesagt, komplex und längst nicht bis in alle Verästelungen und Details durchschaubar. Und vielleicht waren die Ermatinger, Faesi, Nussbaumer, Etter, Altwegg, Bohnenblust, und wie sie alle hiessen, in einer Zeit des extremen äusseren Anpassungsdrucks bloss aus eigener verdrängter Unsicherheit einem auf entwaffnend-provozierende Weise offenen, direkten und mutigen Mann wie diesem Jonas Fränkel einfach nicht gewachsen. Kein Wunder denn, dass die Liste jener, die sich bis zuletzt unbeirrt für Fränkel einsetzten und das Unrecht, das ihm geschah, mit Namen zu nennen wagten, sich im Nachhinein wie eine Ehrengalerie unbestechlicher Zeitgenossen ausnimmt. Es gehörten dazu, um nur die heute dem einen oder anderen noch geläufigen Namen zu nennen, Carl Albert Loosli, Alfred Fankhauser, Otto Zinniker, Emil Ludwig, Friedrich Salzmann, Robert Mächler, Fritz Schwarz, Karl Adolf Laubscher, Rudolf Jakob Humm, Fritz Huber-Renfer, Paul Schmid-Ammann, Werner Schmid und Xaver Schnieper.
Einer von ihnen, der Schriftsteller Rudolf Jakob Humm, ist sich allerdings erst 1954 bewusst geworden, welches Unrecht Fränkel in den Jahren zuvor zugefügt wurde, ohne dass er davon weiter Kenntnis gcnommen hätte. So biss er denn, wie er sich ausdrückte, in der Aprilnummer 1954 seiner Einmannzeitschrift «Unsere Meinung» in den sauren Apfel und stellte öffentlich fest, dass er «damals, als die Sache aktuell war», sich «nicht die Spur um sie gekümmert» habe. «Ich war so ahnungslos, wie es heute manche Deutsche von sich behaupten. Ahnungslosigkeit, das spüre ich heute brennend in mir, ist aber manchmal auch eine Schuld.»
(Erstdruck in «Quarto», Zeitschrift des Schweizerischen Literaturarchivs, überarbeitete Fassung)