Paul Haller 1882–1920

In dem Aargauer Fabrikdorf lässt sich die soziale Unrast mit Händen greifen, als Theophil Leder den Arbeiter Robert Schödler und dessen Mutter aus deren Haus vertreiben will, indem er ihnen das Darlehen kündigt. Marie Leder, die zwölf Jahre zuvor den reichen Wirt dem armen Jugendfreund vorzog, liebt Robert noch immer und steckt ihm die benötigte Summe heimlich zu. Theophil entdeckt es, und es kommt zur Auseinandersetzung, in deren Verlauf Robert ihn auf die Pflugschar niederschlägt. Marie, vor Liebe blind, rettet den Mörder durch ihren Meineid. Aber sie können nicht mehr zusammenfinden. Als Marie ihm gar die Vaterstelle für ihre Kinder anträgt, herrscht Robert sie an: «Aber nid so äine. De Vatter z todschloh und d Chind i d Arm neh? D Auge, di glychen Augen, und di glänzig Pfluegschar drhinder! Zwüschen eus lyt es Wältmeer! Wyter as d Sunn im Himel obe, sim’ mir von enand ewägg.» Als Erster bekam Felix Moeschlin, Redaktor der Zeitschrift «Schweizerland», 1916 das in Aargauer Dialekt gehaltene Drama «Marie und Robert» zu Gesicht, und er druckte es sofort vollständig ab. Es war aus Schiers gekommen, wo der Autor, der am 13. Juli 1882 in Rein bei Brugg geborene Paul Haller, Lehrer an der Evangelischen Mittelschule war. Was da zu lesen stand und was in den folgenden Jahren mühsam genug von der einen oder anderen Bühne gespielt wurde, stellte alles, was bis dahin an Dialekttheater zu haben war, an Expressivität und Wucht in den Schatten und war am ehesten noch mit dem todtraurigen Versepos «’s Juramareili» zu vergleichen, mit dem sein Verfasser 1911 debütiert hatte. Dass Haller, der erst Pfarrer gewesen war und nach einer Glaubenskrise zum Lehrerberuf übergewechselt hatte, sich mit «Marie und Robert» ein persönliches Trauma vom Herzen schrieb, wurde allerdings erst lange nach seinem Tod in seinem Briefwechsel einsehbar. «Niemand weiss, wie sehr diese Handlung aus meinem eigenen Erleben und aus meiner Seele heraus geboren ist», hatte er am 5. März 1916 der Mutter geschrieben. Unvermittelt war Haller die Frau, die er liebte, als Gattin eines anderen begegnet, und er hatte gedemütigt das Feld räumen müssen. In einsamem Ringen suchte er die Niederlage schreibend zu bewältigen: zunächst hochdeutsch mit der Novelle «Frau Gerda», dann im intim­persönlichen Dialekt, aber angesiedelt im proletarischen Milieu, mit «Marie und Robert». Hier, in der Literatur, blieb Haller, wenn auch ohne Happy­End, doch wenigstens Sieger über den Rivalen. Und in Wirklichkeit? Da warf er sich der Psychoanalyse in die Arme. «Es wird mir immer unerträglicher, ohne Liebe zu sein», schrieb er kurz nach Vollendung des Dramas dem Bruder. Schwer depressiv suchte er nach dem Weggang von Schiers und seiner Berufung ans Seminar Wettingen Heilung bei C. G. Jung in Zürich. 1919 jedoch konstatierte Haller, er sei «durch die Analyse so abgebaut», dass er «die alten Stützen» nicht mehr habe, die neuen aber «noch nicht richtig brauchen» könne. Hamo Morgenthaler, psychisch in ähnlicher Verfassung, sollte 1927 schreiben: «Wenn ich die Analyse weiter betreibe, bricht mein letztes bisschen Glauben zusammen und ich werde rasch zugrunde gehen.» Paul Hallers letztes bisschen Glauben brach am 10. März 1920 zusammen. Dem Abschiedsbrief fügte der 38­Jährige, ehe er sich in seiner Zürcher Absteige erschoss, das vielsagende PS bei: «Ich glaube aber heute so fest an die Jungsche Analyse wie vorher. Daran kann mein Unglück nichts ändern, denn es ist eine unbedingte Wahrheit.»

Haller, Paul, *Rein (AG) 13.7.1882, †Zürich 10.3.1920, Pfarrer und Schriftsteller. Nach einem Theologiestudium in Basel, Marburg und Berlin war H., der dem religiösen Sozialismus von L. Ragaz nahestand, zunächst prot. Pfarrer in Kirchberg (AG). 1910 begann er in Zürich ein Zweitstudium in Germanistik, Geschichte und Psychologie (1913 Diss. über Pestalozzi). Danach war er Lehrer in Schiers (GR) und 1916-20 am Lehrerseminar Wettingen (AG). H., ein tief tragischer, zu Depressionen neigender Mensch, nahm sich, von geistiger Umnachtung bedroht, im Gefolge einer gescheiterten Liebesbeziehung das Leben. Als Autor hatte er 1911 mit der in aargau. Mundart gehaltenen Verserzählung »'s Juramareili« debütiert, die der modern anmutenden, unsentimentalen Verwendung des Dialekts wegen aufhorchen liess. Neben den Gedichten (postum 1921 erschienen) ist sein bedeutendstes Werk das Mundartschauspiel »Marie und Robert« (1916): eine im Arbeitermilieu angesiedelte, erschütternde Tragödie um die ausweglose Liebe zw. einer unglückl. verheirateten jungen Frau und ihrem Jugendfreund, der ungewollt zum Mörder ihres Mannes geworden ist. H. Werke erschienen gesammelt 1956 (31980). … Lit.: Haller, E.: P.H. Ein Lebensbild, Aarau 1931; Günther, W.: P.H., in: Dichter der neueren Schweiz, Bd. 2, Bern 1968. (Schweizer Lexikon)


Haller, Paul, * 13. 7. 1882 Rein bei Brugg/Kt. Aarau, † 10. 3. 1920 Zürich. - Theologe; Dialektschriftsteller.

Nach dem Besuch der Kantonsschule Aarau studierte der Pfarrerssohn in Basel, Marburg u. Berlin protestantische Theologie u. näherte sich dabei Leonhard Ragaz' religiös-sozialer Bewegung an. Als Pfarrer im aargauischen Kirchberg schrieb er den literar. Erstling, das Mundartepos S Juramareili (Aarau 1911). Nach einer Glaubenskrise nahm er in Zürich ein Zweitstudium auf u. promovierte 1913 mit einer Dissertation über Johann Heinrich Pestalozzi zum Dr. phil. Er war Deutschlehrer am Seminar von Schiers/Kt. Graubünden, als er mit seinem einzigen Bühnenstück, der Dialekttragödie Marie und Robert (Bern 1916), dem bäuerlich-konservativen sog. »Heimatschutztheater« ein erschütterndes, im Arbeitermilieu angesiedeltes soziales Drama gegenüberstellte. Der düstere Pessimismus des an Romeo u. Julia gemahnenden Schauspiels um eine ausweglose Liebe war autobiographisch bedingt. Völlig vereinsamt u. vom Wahnsinn bedroht, erschoß sich H. während eines Aufenthalts in Zürich.

AUSGABEN: Ges. Werke (u. Briefe). Hg. Erwin Haller. Aarau 1956. 1964. 1985.

LITERATUR: Erwin Haller: P. H., ein Lebensbild. Aarau 1931.
Charles Linsmayer
[Autoren- und Werklexikon: Haller, Paul, S. 2. Digitale Bibliothek Band 9: Killy Literaturlexikon, S. 7528 (vgl. Killy Bd. 4, S. 485)]
(Bertelsmann Literaturlexikon)