Hermann Hiltbrunner

Dreitausend Gedichte etwa muss er geschrieben haben, tausendsechshundert davon brachten zwölf verschiedene Verlage zwischen 1920 und 1962 in 23 Bänden gedruckt auf den Markt: Natur- und Landschaftslyrik, dem Vorbild Rilkes und Georges verpflichtet zuerst, dann, formal immer monotoner werdend, in der Art des Matthias Claudius gereimt. Eine imposante, nach Opuszahlen gegliederte Vielzahl vierzeiliger Strophengedichte zu allem, was sich in der Natur und im Menschenleben in 40 Jahren beobachten lässt. Dem Tenor der Lyrik entsprach die oftmals hymnische Naturbeschreibung in Prosafeuilletons und Tagebuchblättern, die in den zwanziger Jahren im Banne Knut Hamsuns vorwiegend nordisch orientiert war, um dann nach 1939 rechtzeitig heimzufinden zum Antlitz der Heimat und zum Lob der Berge.
Die Rede ist von Hermann Hiltbrunner, dem Basellandschäftler Lehrerssohn, den die unerwiderte Liebe zu einer Bernerin 1917 vom Studium weg- und dem Dichterberufe zutrieb. In Zürich und Uerikon schrieb er seit 1920, sofern er nicht auf Reisen war, Gedicht um Gedicht, begeisterte Zeitungsleser und Radiohörer für die Natur, avancierte zum Nestor eines eng mit der NZZ liierten Dichterkreises, erhielt 1941 den Literaturpreis der Stadt Zürich – und doch: bis auf einige wenige Strophen aus den Geistlichen Liedern von 1944 löst von all seinen tadellos gebauten Gedichten nur ganz selten eines etwas wie Betroffenheit im heutigen Leser aus. Und Bernd Jentzsch liess, als er 1977 seine Schweizer Lyrik des 20. Jahunderts herausgab, Hermann Hiltbrunner überhaupt nicht mehr zu Wort kommen. Was ist da geschehen?
Hiltbrunner selbst hat 1946-1952 seinen lyrischen Ruhm als fragwürdig hingestellt, als er in seinem Tagebuch Alles Gelingen ist Gnade (publiziert 1958 bei Artemis) mitten in den schönsten Naturbeschreibungen drin seine eigene literarische Position nicht weniger gnadenlos in Frage stellte als diejenige seiner vielfach sehr ungehaltenen schreibenden Kollegen. »Ich kann nur das schön finden, was die vorexpressionistische Menschheit schön fand«, bekannte er da und sprach damit nicht wenigen Schweizer Autoren seiner Denk- und Kunstrichtung aus dem Herzen. Und nirgends so deutlich wie im zornigen Umgang mit den »Nachexpressionisten« Frisch und Dürrenmatt liess Hiltbrunner spüren, wie sehr er die von ihm vertretene reine und zeitlose Dichtung bereits als überlebt empfunden haben muss.
Dass Frischs Tagebuch 1946/49 gleichzeitig mit demjenigen Hiltbrunners entstand, ist kein Zufall. Einen Moment lang stand so die durch die Mangel der geistigen Landesverteidigung gegangene ästhetisierend-idealistische Schweizer Literatur der Zwischenkriegszeit abrupt dem Neuen gegenüber, das sich mit Frisch ankündigte und den Ausbruch aus der nationalen Isolation verhiess. Vor diesem neuen Zeitgeist hat Hiltbrunner mit seinem 1300-SeitenOpus kapituliert - wenn auch auf eine Weise, der man seine Sympathie nicht ganz versagen kann. (Literaturszene Schweiz)