Fleur Jaeggy *1940

Die Autorin hat einen beneidenswert direkten Blick für Figuren und Dinge, es verbinden sich darin sorglose Leichtigkeit und überzeugender Sachverstand: widersprüchliche Fähigkeiten, die Dialoge von diabolischer Intelligenz und Schilderungen von entwaffnender Einfachheit hervorbringen.» Was Ingeborg Bachmann 1968 über den Roman «Il dito in bocca» («Der Finger im Mund») der damals 28-jährigen Fleur Jaeggy sagte, trifft auf deren Stil noch immer zu. Aber auch thematisch griff der Erstling – seine Atmosphäre und was das Mädchen Lung über seine missratene Sozialisation erzählt – viele von Fleur Jaeggys späteren Themen erstmals auf: die trostlose Kindheit, die mörderische Beziehungskälte, die Schweiz als Ort der Erstarrung, die Fluchtwege Wahnsinn, Feuer und Tod, die Magie von Dingen und Worten. Scheinbar einer abstrakt-erfundenen Thematik verpflichtet, kreisen Fleur Jaeggys Bücher aller Stilisierung zum Trotz insgeheim monomanisch um ihre Schweizer Kindheit und Jugend. So geben nicht nur «I beati anni del castigo» – die im appenzellischen Teufen spielende Internatsnovelle «Die seligen Jahre der Züchtigung», mit der sie 1989 Weltgeltung erlangte –, sondern auch die Erzählungen «La paura del cielo» («Die Angst vor dem Himmel») von 1994 und der Roman «Proleterka» (2001) jede Menge biografische Details preis. Fleur Jaeggy wurde, um das literarisch Umgesetzte auf das Belegbare zurückzuführen, am 30. Juli 1940 in Zürich als Tochter einer italienischen Mutter und des Inhabers der Baumwollspinnerei Jaeggy in Rothrist geboren und wuchs, da die Mutter meist im Ausland lebte und der Vater eine reine Hotelexistenz führte, der Reihe nach bei einer Verwandten im Tessin, in einer Klosterschule, im Töchterinstitut Teufen, in einem Internat am Bodensee und in einem römischen Institut auf. 1968 heiratete sie den 29-jährigen Verleger Roberto Calasso, der in den Edizioni Adelphi ihren Erstling und ihre weiteren Bücher edierte, und seither lebt sie mitten in Mailand in einem alten Palazzo, wo sie mit Blick auf einen wilden Garten ihre Texte mit einer HermesSchreibmaschine tippt. Auch wenn man ihre Bücher zur Illustrierung ihres Lebens nutzen könnte: Fleur Jaeggys hochartistische Texte auf die darin verarbeiteten Erinnerungen zu reduzieren, hiesse, die ihnen eigene Grösse und Besonderheit völlig zu verkennen. So heissen in «Die Angst vor dem Himmel» die Figuren zwar Rüegg, Schübeli und Angst, lesen die «NZZ» und trinken Dôle, aber die Geschichten, die da erzählt werden, evozieren eine Beklemmung und eine Versehrtheit, die weit über die Schweiz hinaus eine ganze Epoche betrifft. Im Roman «Proleterka» wird zwar eine Kreuzfahrt beschrieben, die Zürcher Zünfter auf dem kommunistischen Schiff dieses Namens unternehmen, aber die Satire auf die Schweizer Millionäre verblasst vor der fast schon antiken Tragik, mit der da eine unglückliche Tochter gegen ihren Vater rebelliert und sich zum erstbesten Seemann in die Koje legt. In den «Seligen Jahren der Züchtigung» lässt sich der Schauplatz im Teufener Institut Prof. Buser bis hin zu der schwarzen Mitschülerin, hinter der sich Wilhelmina, die Tochter des liberianischen Präsidenten William Tubman (1895–1971), verbirgt, genau rekonstruieren. Und doch ist damit fast gar nichts darüber gesagt, wie es Fleur Jaeggy gelingt, für die Verlorenheit und das Unglück eines vereinsamten jungen Menschen ebenso starke, zeitlos gültige Bilder und Worte zu finden wie für die kurze trügerische Seligkeit einer im Wahnsinn endenden Mädchenfreundschaft.