Albert Minder

Zwölf Stunden täglich arbeiten Vater und Mutter in den giftigen Dämpfen der Burgdorfer Zigarrenfabrik, und wenn sie einmal das Verlangen nach Fleisch ankommt, so reicht es allerhöchstens zu Innereien und Lunge: zu »Gekröse«, wie es den Wohlhabenden als Hundefutter dient! Sonst aber müssen sie froh sein, wenigstens die Miete bezahlen und den Kindern Kartoffeln, altes Brot und Zichorienbrühe vorsetzen zu können. Dass man überhaupt durchhält, ist nicht zuletzt diesen Kindern selbst zu danken, die unentwegt den städtischen Kehricht nach Brauchbarem durchwühlen, im Sommer auf Morchelsuche gehen und im Herbst mit dem Hinkenden Boten hausieren. Proletarische Kindheit in einer Schweizer Kleinstadt vor 100 Jahren - kaum jemals fand dieses Phänomen eine derart authentische Darstellung wie im 1925 erschienenen Erzähl- und Versbuch Der Sohn der Heimatlosen von Albert Minder.
Wie der Titel schon andeutet, verstand sich Minder nicht nur als kämpferischer Anwalt der Fabrikarbeiter, sondern zugleich auch als literarischer Exponent des fahrenden Volkes, von dem er abstammte. Darum lotet er weit hinter die eigene Kindheit zurück und schildert eindringlich das Schicksal seiner Vorfahren in jener Periode, als sie auf Initiative Jakob Stämpflis von den widerstrebenden Gemeinden zwangsweise eingebürgert werden mussten. 1948 bzw. 1963 publizierte Minder unter dem Titel Korberchronik eine Neufassung seines Buches, die der ersten zwar an Fülle und literarischer Qualität weit überlegen ist, aber doch auch manches beschönigt und romantisiert. Insbesondere fehlt nun zur Gänze jener leidenschaftliche proletarische Kampfgeist, wie er in den 115 dilettantischen, aber mit Herzblut geschriebenen Gedichten der Erstausgabe zum Ausdruck kam.
Die literarische korrespondierte allerdings exakt mit Minders biographischer Entwicklung. Als hochbegabter Schüler hatte das Armeleutekind das Burgdorfer Gymnasium besuchen dürfen, musste das Lehrerstudium jedoch aus finanziellen Gründen abbrechen und wanderte in die Welt hinaus, um Maler zu werden. Obwohl sein 1909 entstandenes Riesengemälde Fabrik-Feierabend ihn als höchst bemerkenswertes Talent ausweist, brachte er es nur zum Dekorationsmaler und arbeitete, nach Burgdorf zurückgekehrt, 40 Jahre lang für die Traktorenfabrik Aebi in diesem Beruf. Zugleich engagierte er sich voll in der Arbeiterbewegung, war Mitbegründer des sozialistischen Abstinentenbundes sowie einer Jugendorganisation nach Art der »Roten Falken« und brachte es 1926 gar zum Stadtrat. Zuletzt aber zog er sich resigniert von allem zurück und lebte als vielbelächeltes Original in einer mit Büchern überfüllten Baracke am Stadtrand, beschäftigt mit Geschichte und Tradition der Fahrenden, zu deren Identität er immer deutlicher zurückfand. Als er sich, völlig vereinsamt, am 25.Juli i905 das Leben nahm, wanderten seine 1344 Bücher - eine Spezialbibliothek zum Thema »Kinder der Landstrasse«, wie es sie wohl in dieser Form nie wieder geben wird - unbesehen ins Antiquariat. (Literaturszene Schweiz)