Max Pulver

»Vergnügungsreisenden empfehle ich dieses Land nicht. Rausch werden sie nicht finden. An Stelle von Klarheit nur Wirrung. Sie verstricken sich, ohne sich zu lösen, und kommen ärmer zurück, als sie auszogen - wenn sie wiederkommen.«
So steht es in Himmelpfortgasse, dem einzigen Roman des Berners Max Pulver, zu lesen. Und das Land, vor dem der fiktive Erzähler Moenboom den Leser warnt, ist die Abhängigkeit vom Kokain, das um 1927, als der Roman erschien, ähnlich wie heute die Modedroge der städtischen Schickeria war.
Wer aber meint, Himmelpfortgasse sei eine Kampfschrift gegen Drogenabhängigkeit, befindet sich ebenso im Irrtum wie der Verleger von 1927, der das Buch in schreierischer Aufmachung als »Roman des Lasters unserer Zeit« glaubte vermerkten zu müssen. Zwar bietet Pulvers Roman innerhalb der Schweizer Literatur die wohl hellsichtigste und kompetenteste literarische Darstellung des Kokainismus und steht künstlerisch auch einiges über Pitigrillis Kokain, dem Kultbuch der damaligen Drogenszene. Zudem scheint Himmelpfortgasse einen guten Teil seiner Sprachgewalt und vor allem seinen fiebrigen Rhythmus aus Erfahrungen mit dieser visionären Droge bezogen zu haben. Und dennoch ist es - so gelegen es der Kritik von 1927 auch kommen mochte - unzulässig, Pulvers Buch einfach als Kokain-Roman abzustempeln. Himmelpfortgasse ist vielmehr eine für damalige schweizerische Verhältnisse äusserst provokante unbürgerliche Liebesgeschichte, ein freizügiger erotischer Roman, der die Liebe als elementare sinnliche Gewalt der Institution Ehe gegenüberstellt. Die Begegnung mit Mariquita, der jungen Malerin aus der Wiener Himmelpfortgasse, stürzt Alexander Moenboom in eine Lebenskrise, die vom höchsten sinnlichen Taumel bis zur tiefsten Depression alle denkbaren Abstufungen durchläuft und von Max Pulver mit der dem Psychologen eigenen Einfühlsamkeit nicht einfach beschrieben, sondern in Syntax und Sprachduktus regelrecht seismographisch nachgezeichnet wurde.
Dieser Expressionismus des Stils war an einem Schweizer Roman von damals ebenso unerwünscht wie der fremde Schauplatz und die brisante Thematik. Immerhin aber war die zeitgenössische Kritik wenigstens bereit, das Ganze als einmaligen Ausrutscher eines hochbegabten Lyrikers der Rilke-Nachfolge gnädig zu übersehen, und auch Pulver selbst, der hernach als Dichter praktisch verstummte, wollte schon bald nichts mehr von der peinlichen, unverkennbar autobiographisch motivierten Literaturtat wissen. So war es nämlich dazu gekommen: Fasziniert von der Begegnung mit einer jungen Frau, hatte er seine ganze ungeheure Gebildetheit von sich geworfen und sich - fiebernd, rasend, dann wieder stockend, verzweifelt, sein eigener Interpret und Therapeut zugleich - all das Aufwühlende, Problematische, aber auch Ekstatische, Bezaubernde dieses kurzen Liebesrauschs von der Seele geschrieben. Dass er damit sein literarisches Meisterwerk schuf, wusste Pulver nicht einmal, so heillos hatte ihn die kleinmütige literarische Kritik verwirrt.
Himmelpfortgasse ist, kommentiert von Charles Linsmayer, seit 1981 in der Ex Libris-Edition »Frühling der Gegenwart« greifbar. (Literaturszene Schweiz)

Pulver, Max

*Bern 6.12.1889, †Zürich 13.6.1952, Graphologe und Schriftsteller. Nach dem Gymnasium in Bern studierte P. in Strassburg, Leipzig und Freiburg i.Br. Geschichte, Psychologie und Philosophie (Promotion 1911). In Paris kam er erstmals mit der Graphologie in Kontakt, die er ab 1918 in München systemat. zu betreiben begann. Bereits 1916 hatte er mit dem von der Bekanntschaft mit Rilke zeugenden Gedichtband »Selbstbegegnung« als Schriftsteller debütiert und machte sich in der Folge mit formal eher traditionalist. Stücken wie »Alexander der Grosse«, »Robert der Teufel« (beide 1917) oder »Christus im Olymp« (1918) einen Namen als Dramatiker. Mit »Auffahrt« (Gedichte, 1919) und mit der Revolutionskomödie »Das grosse Rad« (1921) wandte er sich dann, veranlasst durch die hautnah miterlebten Münchner Revolutionswirren, deutl. einer expressionist. Schreibweise zu. Sein Bestes in dieser Stilrichtung gab er in seiner Prosa: »Kleine Galerie« und »Arab. Lesestücke« (beide 1925) sowie mit dem Roman »Himmelpfortgasse« (1927, Neuausgabe 1981). Eine zentrale Rolle in diesem Roman spielt dabei die »visionäre Droge« Kokain, die das sprachl. Erscheinungsbild und den fiebrigen Rhythmus des Romans mitbestimmt haben dürfte. Die zeitgenöss. Kritik brandmarkte das Buch als Verherrlichung eines Lasters und verunsicherte damit sogar P. selbst so weit, dass er sich von seinem einzigen Roman distanzierte. Auf dem Gebiet der Graphologie jedoch, die ihm weitgehend ihre Approbation als ernst zu nehmende Wiss.disziplin verdankt, erlangte P. bereits zu Lebzeiten mit Fachbüchern wie »Symbolik der Handschrift« (1931), »Person, Charakter, Schicksal« (1944) oder »Intelligenz im Schriftausdruck« (1949) internat. Anerkennung. … Lit.: Haltmar, J.: M.P. und sein Roman »Himmelpfortgasse«, Zürich 1979; Linsmayer, C.: M.P., in: M.P. »Himmelpfortgasse«, Neuausgabe, Zürich 1981/Frankfurt a.M. 1990. (Schweizer Lexikon)


Pulver, Max

* 6. 12. 1889 Bern, † 13. 6. 1952 Zürich. - Lyriker, Erzähler, Dramatiker; Graphologe.

Schwer erschüttert über den Tod seines Vaters, begann P. nach eigener Erinnerung bereits mit acht Jahren zu schreiben, wobei die Motivation bereits weitgehend identisch mit derjenigen war, die sein ganzes späteres Schaffen bestimmen sollte: Er wollte sich über sich selbst u. über den Sinn des Lebens Klarheit verschaffen. Nach dem Gymnasium in Bern studierte P. ab 1908 in Straßburg, Leipzig u. Freiburg i. Br. Geschichte, Psychologie u. Philosophie (Dr. phil. 1911) u. vertiefte dann sein Wissen in Paris, wo er u. a. Bergson hörte. 1914-1924 lebte er, verheiratet mit der Holländerin Berta Feldmann, in München, war zunächst Assistent am Phänomenologischen Seminar Moritz Geigers u. wandte sich ab 1918 berufsmäßig der Graphologie zu. Gefördert von Rilke, debütierte P. damals mit den von religiöser Inbrunst u. einem gewissen formalen Klassizismus geprägten Versen des Bandes Selbstbegegnung (Lpz. 1916) als Lyriker. Zwischen 1917 u. 1921 versuchte er sich mit einigem Erfolg auch als Dramatiker, so mit Alexander der Große (Lpz. 1917), der Parabel vom Aufstieg eines Gottmenschen zur Macht u. letztlich zur Erkenntnis, daß Seligkeit nur in der Selbstaufgabe zu finden sei, oder mit der »Epiphanie« Christus im Olymp (Mchn. 1918), die den christl. Gott in den Olymp einziehen u. dort an die Stelle der alten Götter treten läßt. Nach der Begegnung mit Werfel u. Johannes R. Becher u. im Gefolge der Münchner Räterevolution stimmte nicht nur der Lyriker - erstmals mit Auffahrt (Lpz. 1919) -, sondern auch der Dramatiker P. in den expressionistischen Aufbruch mit ein. Typisch für diese Stilrichtung ist seine Komödie Das große Rad (Mchn. 1921), die eine Liebesgeschichte mit der russ. Oktoberrevolution verquickt u. die Menschheit in einer schweren geistigen Krise zeigt, an welcher die Unruhe das einzig Hoffnungsvolle ist. Den gewichtigsten Beitrag zum literar. Expressionismus leistete P. jedoch mit seiner Prosa: den knappen, virtuosen Stimmungsbildern der Bände Kleine Galerie u. Arabische Lesestücke (beide Lpz. 1925) sowie v. a. mit dem Roman Himmelpfortgasse (Mchn./Zürich 1927. Neuausg. Zürich 1981. Ffm. 1990). Der Roman, der von der zeitgenöss. Kritik u. später auch von P. selbst als Darstellung einer verdorbenen Triebwelt abgelehnt wurde, bezieht einen guten Teil seiner Sprachgewalt u. vor allem seinen fiebrigen Rhythmus aus der Erfahrung mit der visionären Droge Kokain. Die Begegnung mit Mariquita, der jungen Malerin aus der Wiener Himmelpfortgasse, stürzt den Protagonisten Alexander Moenboom in eine Lebenskrise, die vom höchsten Taumel bis zur tiefsten Depression alle denkbaren Abstufungen durchläuft u. von P. mit der dem Psychologen eigenen Einfühlsamkeit nicht einfach beschrieben, sondern in Syntax u. Sprachduktus regelrecht seismographisch nachgezeichnet wird. Sieht man von den zwei wieder ganz im Konventionellen angesiedelten Lyrikbänden Neue Gedichte (Zürich 1939) u. Übergang (ebd. 1946) ab, so verstummte P., der seit 1924 als Graphologe in Zürich lebte, nach den negativen Reaktionen auf seinen einzigen Roman als Schriftsteller weitgehend u. beschränkte sich auf Publikationen wie Symbolik der Handschrift (ebd. 1930), Person, Charakter, Schicksal (ebd. 1944) oder Intelligenz im Schriftausdruck (ebd. 1949), mit denen er die Graphologie in den Rang einer Wissenschaftsdisziplin erhob.

LITERATUR: Jan Haltmar: M. P. u. sein Roman «Himmelpfortgasse». Diss. Zürich 1979. - Werner Günther: M. P. In: Dichter der neuen Schweiz 2. Bern 1968. - Charles Linsmayer: M. P.Nachw. zur Neuausg. v. «Himmelpfortgasse». a. a. O. (Bertelsmann Literaturlexikon)