Alice Rivaz 1901–1998

Alice Rivaz, die am 14. August 1901 geborene Tochter des Sozialistenführers Paul Golay, war innerhalb der Welschschweizer Literatur die kompromissloseste und konsequenteste Verfechterin der Frauenemanzipation, die das 20. Jahrhundert hervorbrachte. Charakteristisch dafür ist «La Paix des ruches» («Der Bienenfriede») von 1947, ein Roman, in dem Sätze wie der von der «bestialischen Schädlichkeit des erwachsenen Mannes» stehen, welche eines Tages «die ganze Erde in eine Ruinenwüste verwandeln» könne, sofern den Frauen nicht vorher die Augen aufgingen und eine Art «Bienenfriede» eintrete. Wobei Letzterer nicht mehr und nicht weniger meint als «die wohlüberlegte Ausschaltung der männlichen Spielverderber», wie sie vor Urzeiten im Bienenstaate vollzogen worden sei! Trotz solchen Tönen predigte Alice Rivaz aber nicht die Vermännlichung der Frau. Sie träumte im Gegenteil mit Rilke von jenem «weiblichen Menschen», der nicht bloss das Gegenstück zum Mann, sondern «etwas für sich» ist und zum Mann in eine Liebesbeziehung tritt, «die darin besteht, dass zwei Einsamkeiten einander schützen, grenzen, grüssen». In ihrem autobiografischen Meisterwerk «Jette ton pain» («Schlaflose Nacht») hat Alice Rivaz 1979 diesen «weiblichen Menschen» am Beispiel einer MutterTochter-Beziehung tiefer denn je hinterfragt, wobei, wie immer in ihrem Œuvre, auch die Trauer um Vergänglichkeit und Tod eine wesentliche Rolle spielt. Noch deutlicher tritt der dunkle Bereich in ihrem erschütternden, aus einer bitteren Liebesenttäuschung hervorgegangenen Klagelied «Comptez vos jours» («Bemesst die Zeit») von 1966 sowie in ihren von 1939 bis 1982 geführten, 1983 als «Traces de vie» («Lebensspuren») publizierten «Carnets» («Tagebücher») zutage. Ihr lebensfrohstes Werk dagegen sind die Kindheitserinnerungen «L’Alphabet du matin» (1968). Da ist der vergleichsweise idyllische Beginn eines Jahrhunderts beschrieben, das die am 27. Februar 1998 verstorbene Schriftstellerin fast ganz miterlebt und literarisch protokolliert hat: präzis, sparsam, zurückhaltend und aus spezifisch fraulicher Optik. Angefangen aber hat alles während des Zweiten Weltkriegs, als das Genfer Internationale Arbeitsamt (BIT), dessen Mitarbeiterin Alice Rivaz war, nach Kanada dislozierte. Arbeitslos geworden, brachte sie ihr 1937 entworfenes Typoskript «Nuages dans la main» («Wolken in der Hand») – ein unter dem Personal des BIT spielender Roman um die Befindlichkeit junger Menschen in einer bedrohlichen Zeit – zur Druckreife und schickte es Charles-Ferdinand Ramuz. Und während die Eltern sie vor einer Publikation warnten – der Vater wegen literarischer Mängel, die Mutter wegen ihr ungehörig scheinender Liebesfantasien –, brachte Ramuz die Guilde du Livre dazu, den Erstling ins Jahresprogramm 1940 aufzunehmen. Ramuz war von Kind auf ihr Idol gewesen. Sein Bild hing über ihrem Schreibtisch, und nachts träumte ihr, der Dichter gehe in weiter Lodenpelerine mit ihr durch den Wald und küsse sie. Kurz bevor das Buch erschien, im Sommer 1940, sass sie ihm dann erstmals leibhaftig gegenüber. «Aber der wirkliche Ramuz», vertraute sie dem Tagebuch an, «hat mich nicht geküsst. Er machte sich ein wenig lustig über mich, wurde dann nach und nach ernst, kam auf meine Arbeit zu sprechen und erteilte mir beherzigenswerte väterliche Ratschläge.» Dabei war die damals 38-Jährige ohne Zweifel die schönste Schriftstellerin, die Ramuz je gegenübersass.