«Tropismes» revolutionierte die Literatur: Nathalie Sarraute (18. Juli 1900 - 19. Oktober 1999)

Als sie ihr «Portrait d'un inconnu» schenkt, liest die Mutter, die in Russland eine erfolgreiche Autorin war, gerade mal das Vorwort, und das stammt von Sartre. Denn Nathalie Sarraute schreibt, was Sartre «Antiroman» nennt: Texte ohne roten Faden, ohne Erzähler-Ich, Evokationen jener flüchtigen, der «sous-conversation» zugehörigen «Tropismes», die 1939 ihrem Erstling den Titel gaben. Aber «Portrait d'un inconnu» findet 1948 nur 400 Käufer. «Entdeckt» wird die Sarraute erst 1957, als «Tropismes» zugleich mit Robbe-Grillets «Jalousie» neu erscheint und man sie unbesehen dem «nouveau roman» zuordnet, mit dem sie bloss die Ablehung der Tradition teilt. Wie eigenständig sie ist, bestätigt sich 1963 in «Les fruits d'or», wo dem Erzählen eine ganz neue, oszillierende Wirklichkeit erschlossen, aber auch die Intrigen der Literaturszene ironisiert werden, und vor allem in «Enfance» (1983), wo die Kindheitserinnerungen sich als genuine Tropismen entpuppen. Autobiografisch aber ist der Roman ebensowenig wie die andern Bücher dieser Autorin, die weder die Flucht aus Russland, noch die schlimme Zeit thematisierte, die sie als Jüdin im besetzten Frankreich unter falschem Namen als Lehrerin ihrer Kinder verlebte. Nicht einmal das Geburtsjahr der 1999 verstorbenen Schöpferin von zukunftsträchtigen neuen Erzählmöglichkeiten ist zweifelsfrei bekannt, aber vielleicht ist sie ja wirklich am 18.Juli 1902 in Russland zur Welt gekommen.