Annemarie Schwarzenbach 1908–1942

Wer ihr begegnete, verliebte sich in Annemarie Schwarzenbach, die pagenhaft anmutige, grazile, blitzgescheite Horgener Fabrikantentochter, die mit dreiundzwanzig ihren Doktor machte und den Verkehr mit ihrem Sportwagen ebenso durcheinanderbrachte wie das elterliche Gut Bocken mit ihrem unkonventionellen Verhalten. Das «schöne Antlitz eines untröstlichen Engels», soll sie laut Roger Martin du Gard gehabt haben. Und Thomas Mann sagte zu ihr: «Merkwürdig, wenn Sie ein Junge wären, dann müssten Sie doch als ungewöhnlich hübsch gelten!» Die eigene Familie aber attestierte ihr nichts weniger als «moralische Verworfenheit», denn statt Heiratskandidaten aus guten Häusern liebte General Willes am 23. Mai 1908 geborene Enkelin Freundinnen wie Erika Mann, Therese Giehse oder Carson McCullers! An männlichen Partnern kamen, wenn überhaupt, nur feminine, ephebenhafte Typen in Frage: Klaus Mann, den sie zärtlich verehrte, oder der Diplomat Clarac, den sie heiratete, um als Französin der familiären Obhut zu entkommen. Seit 1930 gehörte sie zum Kreis um die Mann-Kinder Klaus und Erika, mit denen sie nicht nur die literarischen Ambitionen, sondern bald auch die Vorliebe für Alkohol, Morphium, schnell wechselnde Freundschaften und pausenloses Reisen teilte. 1931, in ihrem Erstling «Freunde um Bernhard», und 1933, in der «Lyrischen Novelle», hat sie diese Künstlerbohème mit mehr Charme als literarischem Können dargestellt. Zu ihrer professionellen Spezialität aber wurde das persönlich gefärbte, mit eigenen Fotos illustrierte Reisefeuilleton – Resultat von tollkühnen Autofahrten an die Riviera, nach Spanien, Nordeuropa, quer durch Amerika und bis nach Afghanistan und Indien. Das exzentrische Gehabe war jedoch nur äussere Hülle über einer früh verletzten empfindsamen Seele. Der Zerfall ihrer Persönlichkeit sei «bis zu einem Punkt getrieben, wo er produktiv werden könne», hatte Max Pulver schon 1931 diagnostiziert. Eine Begabung, ja, aber eine, die auf intimer Ebene erkauft werden musste – mit einer Kette von Nervenzusammenbrüchen, Suizidversuchen, Drogenvergiftungen, Internierungen und Entziehungskuren. Bis sie 1940 – der deutschen Literatur ins Exil gefolgt und zum Englischen übergegangen – in die Fänge der amerikanischen Zwangspsychiatrie geriet und innerlich zerbrach. Über die Zwischenstation Belgisch-Kongo auf abenteuerlichem Wege nach Sils-Baselgia im Engadin heimgekehrt, starb sie, so die offizielle Version, am 15. November 1942 34-jährig an den Folgen eines Fahrradunfalls. Klaus Mann hat sein «Schweizerkind» in zwei Romanen verewigt: als Johanna in «Flucht in den Norden» (1934) und als Engel der Heimatlosen in «Vulkan» (1939). Annemarie Schwarzenbach selbst aber hat sich ein wundervolles Denkmal gesetzt mit jenem Buch, das alle ihre früheren und späteren Versuche, so interessant sie aus biografischen, zeitgeschichtlichen, soziologischen oder genderspezifischen Gründen sein mögen, vergessen lässt: «Das glückliche Tal» von 1939. In dieser tagebuchartigen lyrischen Rhapsodie, Frucht eines Persienaufenthalts von 1935 – im Jahr 1938, während einer Entzugskur, unter Drogeneinfluss in poetisch-hymnische Form gebracht – ist auf dichterisch vollendete Weise festgehalten, was diese Frau an Ausserordentlichem auszeichnete: die Fähigkeit zu trauern, die Bereitschaft zum Tode und der unbedingte Wille, zwischen Welt und Nation, Mann und Frau, Zeit und Ewigkeit alle Grenzen niederzureissen.

Schwarzenbach, Annemarie
*Zürich 23.5.1908, †Sils Maria (GR) 15.11.1942, Schriftstellerin. Die Tochter eines Seidenindustriellen und Enkelin von General Wille wuchs in grossbürgerl. Umgebung in Zürich und auf Gut Bocken (bei Horgen) auf. Ab 1927 studierte sie in Zürich und Paris Geschichte und Literatur (Promotion 1931). Sie war Mitverfasserin eines Reiseführers (»Was nicht im Baedeker steht. Das Buch von der Schweiz«, 2 Bde., 1932/33), danach freie Journalistin, Photographin und Reiseberichterstatterin. Auf zahlr. Reisen (u.a. nach Spanien, Skandinavien, Russland und in den Vorderen Orient) und während längerer Aufenthalte in Persien und in den USA profilierte sie sich als unbestechl. Photoreporterin (»Auf der Schattenseite. Reportagen und Photographien«, hg. von R. Dieterle und R. Perret 1990, Bd. II 1992). Seit 1930 war S. mit Klaus und Erika Mann befreundet, in deren Kreis sie bald zur engagierten Antifaschistin wurde und selbst literar. Texte (»Freunde um Bernhard«, 1931; »Lyr. Novelle«, 1933, nhg. 1988, »Flucht noch oben«, 1931, EA 1999 durch Roger Perret) zu schreiben begann. Allerdings wurde ihre Produktivität stark eingeschränkt durch eine seit 1932 bestehende Drogenabhängigkeit, die häufige Klinikaufenthalte notwendig machte und die sie erst in ihren letzten Lebensmonaten zu bewältigen vermochte. Um sich aus der Abhängigkeit vom Elternhaus zu lösen, heiratete S. 1935 den frz. Diplomaten C. Clarac. Mit ihm hielt sie sich im pers. Lahrtal auf und schrieb dort während einer tiefen seel. Krise »Tod in Persien«, die erste, noch unreife Fassung ihres 1938 in Yverdon vollendeten, durch seine Landschaftsbilder und die lyr.-rhapsod. Sprache beeindruckenden Romans »Das glückl. Tal« (1939; 21987, mit biograph. Nachwort von C. Linsmayer). 1939/40 reiste sie mit Ella _Maillart nach Afghanistan, lebte dann in den USA, wo sie zur Schrifstellerin Carson McCullers in Beziehung trat. 1941 reiste sie in den Kongo, wo sie am Roman »Das Wunder des Baumes« (unveröffentlicht) arbeitete. Nach Sils Maria zurückgekehrt, starb S. an den Folgen eines Fahrradunfalls. … Lit.: Meienberg, N.: Eine lehnt sich auf und stirbt daran, in: Die Welt als Wille und Wahn, Zürich 1987; Perret, R.: Ernst, Würde und Glück des Daseins, in: A.S.: Lyr. Novelle, Basel 1988; Wanner, K./Breslauer, Marianne: »Wo ich mich leichter fühle als anderswo«, A.S. und ihre Zeit in Graubünden, Chur 1997.
(Schweizer Lexikon)

Schwarzenbach, Annemarie
* 23. 5. 1908 Zürich, † 15. 11. 1942 Sils Baseglia/Engadin. - Erzählerin, Reporterin.
Als drittes Kind des Seidenindustriellen Alfred Emil Schwarzenbach u. seiner Frau Renée, Tochter des späteren Schweizer Generals Wille, wuchs S. in Zürich u. auf dem Landgut Bocken bei Horgen in großbürgerl. Umgebung auf. Nach der Matura im Töchterinstitut Fetan studierte sie ab 1927 in Zürich u. Paris u. promovierte 1931 mit einer Arbeit über die Geschichte des Oberengadins zum Dr. phil. Im gleichen Jahr publizierte der Amalthea Verlag, Wien, ihr erstes Buch, Freunde um Bernhard: ein im lockeren Parlando der damaligen Jeunesse dorée gehaltener Roman um die verwickelten erot. u. homoerot. Beziehungen innerhalb einer Gruppe reicher junger Menschen. Der Text war, nachdem S. bereits früher eine Reihe meist unveröffentlichter Novellen u. Erzählungen geschrieben hatte, im Herbst 1930 unter dem Eindruck der sich anbahnenden Freundschaft zu Erika u. Klaus Mann entstanden. Diese Beziehung, die bis zu ihrem Tod mehr oder weniger bestehen blieb, bildete fortan eine wichtige Konstante in S.s. Leben, bestimmte ihre Aufenthaltsorte, beeinflußte ihre literar. Arbeit sowie ihre polit. Haltung u. gab ihr Rückhalt im Konflikt mit dem Elternhaus, dem sich die engagierte Antifaschistin ab 1933 immer stärker entfremdete. Allerdings kam sie im Umfeld der Mann-Geschwister 1932 auch erstmals in Kontakt mit Drogen u. geriet dabei in eine Abhängigkeit, aus der sie sich trotz häufiger Klinikaufenthalte nie mehr wirklich zu befreien vermochte. Dennoch machte S. sich nach 1933 rasch einen Namen als unbestechl., die sozialen Zusammenhänge nie außer Acht lassende Fotoreporterin. Für Schweizer Zeitungen bereiste sie Skandinavien, Spanien, Rußland, den Vorderen Orient (Winter in Vorderasien. Zürich 1934) u. mehrfach die USA. 1935, nach der Heirat mit dem in Teheran stationierten frz. Diplomaten Claude Clarac, ließ sie sich kurze Zeit in Persien nieder u. machte im Sommer des gleichen Jahres während eines Ferienaufenthalts am Fuße des Demawend jene existentielle Krise durch, die sich ihr 1938 in der Erinnerung zu ihrem wohl gelungensten literar. Werk, dem Roman Das glückliche Tal (Zürich 1940. Frauenfeld 1987. Bln. 1991), verdichtete. Der lyr., tagebuchartige Text bindet in einer sehr poetischen, rhapsod. Sprache all jene Themen zu einem unauflösbaren Ganzen, die das Leben S.s so nachhaltig bestimmten: das Erlebnis fremder Landschaften, das Vergessenwollen, die Einsamkeit, die Absage an die bürgerl. Gesellschaft, die Suche nach der eigenen Identität, die Liebe, den Tod u. die gefährl. Faszination des Rauschgifts. Als der Roman 1939 (Copyrightvermerk 1940) erschien, befand sich S. eben auf der spektakulärsten ihrer Reisen, jener Autoexpedition durch Afghanistan, die im Bericht ihrer Reisegefährtin Ella Maillart, The Cruel Way (1947. Dt.: Auf abenteuerlicher Fahrt. Zürich 1948. Neuausg. 1988 u. d. T. Flüchtige Idylle), auf bewegende Weise dokumentiert ist. Nach einem kurzen Heimataufenthalt übersiedelte S., die sich dem literar. dt. Exil zugehörig fühlte u. als Mitbegründerin u. Sponsorin von Klaus Manns Exilzeitschrift »Die Sammlung« gelten muß, im Sommer 1940 definitiv in die USA, wo sie für das Emergency Rescue Committee tätig war u. für US-Zeitungen Artikel schreiben wollte. In dieser Zeit verband sie eine leidenschaftl. Beziehung mit Carson McCullers, die in deren Erzählung A Tree. A Rock. A Cloud ihren schönsten literar. Niederschlag fand. McCullers gab darin der Idee, die S.s letztem - in Anlage u. Durchführung gescheiterten, unveröffentlichten - Werk (Das Wunder des Baumes. Typoskript in der Schweizerischen Landesbibl. Bern) zugrundeliegt u. die darauf abzielt, daß der Mensch durch die Begegnung mit der Natur von seiner verzehrenden Ungeduld u. Liebessehnsucht geheilt werden könne, ihrerseits eine ergreifende, gelungene dichterische Gestalt. Als die Erzählung im Nov. 1942 in »Harper's Bazaar« erschien, war S. längst tief in geistige Umnachtung versunken u. hatte nur noch wenige Tage zu leben.
Im Winter 1940/41 bereits hatte die Hoffnung Amerika für sie ein bitteres Ende gefunden. Nach einer Auseinandersetzung mit einer Freundin war sie im Nov. 1940 zwangsweise in eine psychiatr. Klinik eingewiesen worden, aus welcher ihr Bruder sie Ende Jan. 1941 nur unter der Bedingung befreien konnte, daß sie das Land sofort verlasse. Da sie zu Hause unwillkommen war, begab sich S. im April 1941 auf ihre letzte große Reise: über Spanien u. Portugal in den Kongo, wo sie für Schweizer Zeitungen schrieb u. am Wunder des Baumes arbeitete. Durch Intrigen zermürbt u. durch eine längere Malaria-Erkrankung geschwächt, kehrte S. im Juli 1942 in die Schweiz zurück. Am 7. 9. 1942, kurz bevor sie wieder nach Portugal ausreisen konnte, um die Aufgaben einer Iberien-Korrespondentin der »Weltwoche« zu übernehmen, zog sie sich im Engadin bei einem Sturz vom Fahrrad eine Kopfverletzung zu, die sie um den Verstand brachte u. neun Wochen später ihren Tod herbeiführte.
WEITERE WERKE: Lyr. Novelle. Bln. 1933. Mit Nachw. v. Roger Perret. Basel 1988. - Lorenz Saladin. Ein Leben für die Berge. Bern 1938 (Biogr.). - Blick auf Palästina. In: Charles u. Andrea Linsmayer (Hg.): Frühling der Gegenwart. Erzählungen 3. Zürich 1983. Ffin. 1990. - Bei diesem Regen. Mit Nachw. v. R. Perret. Basel 1989 (E.en). - Auf der Schattenseite. Ausgew. Reportagen u. Fotografien. Hg. Regina Dieterle u. R. Perret. Mit Nachw. v. R. Dieterle. Basel 1990.
LITERATUR: Roger Perret: An den äußersten Flüssen des Paradieses. Ein Porträt v. A. S. In: NZZ, 7./8. 3. 1987. - Charles Linsmayer: Leben u. Werk A. S.s. In: A. S.: Das glückl. Tal (= &Mac221;Reprinted by Huber&Mac220;. Bd. 1). Neu hg. v. C. Linsmayer. Frauenfeld 1987, S. 159-224. - Niklaus Meienberg: Eine lehnt sich auf u. stirbt daran. In: Die Welt als Wille & Wahn. Elemente zur Naturgesch. eines Clans. Zürich 1987, S. 109-124 u. passim.
(Bertelsmann Literaturlexikon)