Paul Seippel

1920, als es um den Beitritt der Schwelz zum Völkerbund ging, drohte der Graben zwischen Deutsch und Welsch wieder einmal aufzubrechen. General Wille, Haupt der Deutschschweizer Beitrittsgegner, warf den beitrittswilligen Welschen am 4. Mal 1920 in der NZZ gar vor, sie wollten von der »französischen Provinzstadt« Genf aus mit Völkerbundshilfe »die Französisierung über die ganze Schweiz ausdehnen«.
Da betrat ein Mann noch einmal die politische Arena, der wie kein zweiter berufen war, die helvetisehe Einmütigkeit zu retten: Paul Seippel, in Zürich lebender Genfer Romanist und Schriftsteller, Redaktor des Journal de Genève seit 1884, ETH-Professor f'ür Romanistik seit 1898, enger Freund und Biograph Romain Rollands. Mit seiner scharfsinnigen Analyse der Deux Frances -des »roten«, revolutionären und des damit ewig verfeindeten »schwarzen«, klerikalen Frankreich - hatte Seippel 1905 eine epochemachende Standortbestimmung geliefert. Antidogmatisch, aber nicht religionsfeindlich gesinnt, hatte der gleiche Autor 1912 mit seiner Biographie der Adèle Kamm dem Protestantismus sozusagen eine moderne Heilige geschenkt.
Am bedeutendsten aber wurde Seippel in seiner Rolle als schweizerischer Vermittler. So 1914-1918, als er mit seinen Chroniques zurichoises und seiner Rede Vérités helvétiques für die Romandie genau das erreichte, was Carl Spittelers Schweizer Standpunkt für die Deutschschweiz bewirkt hatte: ein neutrales Abrücken von der favorisierten Kriegspartei und eine Annäherung an den jeweils anderen Landesteil. »Ohne Sie hätte ich kaum mehr das Gefühl, ein Vaterland zu haben«, schrieb ihm Leonhard Ragaz am 24. 11. 1914. In der Romandie selbst aber geriet Seippel in den Geruch der Deutschfreundlichkeit und in eine Isolation, die ihn schwer kränkte. Da klopfte ihn Willes Attacke nochmals aus dem Busch. Doch galt es nun, anders als früher, nicht die Romands, sondern die Deutschschweizer zu gewinnen. Darum antwortete Seippel dem General auf deutsch und in einem »Offenen Brief« in der National-Zeitung vom 11. Mai 1920. »Das ist Stil Ludendorff«, rief er ihm zu. »Seit langem schon waren Sie in der Schweiz eine Art geistiger Vertreter dieses verpreussten Deutschland.« Hohenzollernfreund, der er sei, habe Wille auf den deutschen Sieg gehofft und bekämpfe darum jetzt den Völkerbund. »Nein, Herr General Wille-von Bismarck«, triumphierte Seippel schliesslich, »das Schweizervolk wird Ihrem weissen Helmbusch nicht weiter folgen. Die Schweiz ist dazu geschaffen, im Bund freier Völker, die, wie wir, den Frieden wollen, frei zu leben. « So war dem General noch niemand gekommen! Aber es kam noch besser. Wider Erwarten brachte die Abstimmung nämlich eine Mehrheit für den Beitritt, und am Abend des 16. Mai 1920 wurde der kleine Professor von der welschen Kolonie Zürichs wie ein Held gefeiert.

Seippel starb am 13. März 1926, und der frühe Tod ersparte es ihm, das Schicksal des Völkerbunds und die faschistenfreundliche Völkerbundspolitik Giuseppe Mottas noch miterleben zu müssen.
(Literaturszene Schweiz)