Anna Siemsen

»Eine der drei klügsten Frauen Europas« hat Kurt Tucholsky sie genannt, und die Bücher, die Anna Siemsen hinterlassen hat, zeugen allesamt für die Richtigkeit dieses verpflichtenden Urteils. In den Literarischen Streifzügen von 1925 z. B. reisst sie die Grenzen der Nationalliteraturen beherzt nieder und legt aus undogmatischer sozialistischer Sicht eine europäische Literaturgeschichte frei, die erfrischend anders aussieht als alles, was an Universitäten so doziert wird. Daheim in Europa heisst vielsagend ein Buch von 1928: ein Reiseführer, der Arbeitersiedlungen, Slums und Gefängnisse nicht ausspart und den man noch heute all den fixen Ferientraumverkäufern in die Hand drücken müsste! Als in Spanien der Bürgerkrieg tobte, bereiste sie gerade dieses Land und publizierte dann 1937 ein Spanisches Bilderbuch, das sich als erschütternde Anklage gegen Franco und seine Helfershelfer entpuppt. Obwohl sie die helvetische Demokratie als Modell für Deutschland ansah, entwarf Anna Siemsen 1947 In ihren Briefen aus der Schweiz auch von unserem Land und seiner Geschichte ein ganz und gar ungeschminktes Bild, das vieles von dem vorwegnahm, was die Historiker inzwischen mühsam »aufarbeiten« mussten.
1914 schon, als Luthers Pastoren den Krieg bejubelten, war die Düsseldorfer Studienrätin und Pfarrerstochter zu den Sozialisten übergelaufen. Später sass sie im Reichstag der Weimarer Republik und amtete als Dozentin für Pädagogik an der Jenaer Universität. Als sie 1933 in die Schweiz flüchtete, wäre die einstige Kampfgefährtin Rosa Luxemburgs wohl wie ihr Bruder August Siemsen, der Verfasser von Preussen, die Gefahr Europas, wieder zum Lande hinausgedrängt worden, hätte der Arbeiter-Sekretär Walter Vollenweider sich nicht zu einer »politischen Ehe« bereit gefunden. So aber konnte Anna Vollenweider-Siemsen bis Ende 1946, als sie ins zerstörte Hamburg zurückkehrte und ihre letzten Jahre ein zweites Mal dem Wiederaufbau des deutschen Schulsystems opferte, ungeschoren in der Schweiz bleiben und als Redaktorin von Die Frau in Leben und Arbeit ihr politisches und menschliches Engagement fortführen. Eine Professur wurde ihr in der Schweiz natürlich nicht angeboten, und als sie 1946 f'ür ihre geplante, später fertiggestellte, aber nie gedruckte Geschichte der deutschen Literatur in Europa Unterstützung beantragte, wies das Eidgenössische Departement des Innern dies mit der Begründung zurück, es liege »keine völlige Mittel- und Beschäftigungslosigkeit des Gesuchstellers« vor ...
Dennoch hat Anna Siemsen 1943 in der Schweiz jenes epochemachende Buch publizieren können, das die Literaturgeschichte ohne jegliche Einengung um eine den Frauen gewidmete Sparte bereicherte: Der Weg ins Freie. Von den Nonnen des Mittelalters bis hin zu George Sand, Johanna Spyri und Katherine Mansfield ist darin auf sehr persönliche Weise die Geschichte schreibender Frauen dargestellt. Nicht, um die Frau in Gegensatz zum Manne zu stellen, sondern aus folgendem, für Anna Siemsens Leben und Denken charakteristischem Grund: »Weil wir Frauen die Schwächeren sind, so zeigt sich an ihrem Schicksal besonders deutlich Unrecht und Gewalttätigkeit einer Zeit. «
(Literaturszene Schweiz)