Johanna Spyri und ihr Weltbestseller
C. F. Meyer bewunderte sie, weil sie "mit so wenig Stoff etwas so Naives, Strahlendes, Glückliches herzustellen"
verstand, Josef Viktor Widmann nannte sie allen Ernstes "Frau Gottfried Keller", und doch vergingen nicht hundert Jahre, bis
ein Soziologe verkünden konnte, ihre Bücher gehörten "in den Giftschrank der Jugendliteratur". Die Rede ist von
Johanna Spyri, die am 7.Juli 1901 vierundsiebzigjährig in Zürich starb. Sie selbst hatte ihre insgesamt 49
Bände "Geschichten für Kinder und auch für solche, welche Kinder lieb haben" nie als hohe Dichtung betrachtet,
und doch begann schon zu ihren Lebzeiten eine akademische Kontroverse über Wert oder Unwert ihrer Produktion, die bis zum
heutigen Tage andauert. Während die einen das Bild von der weltbeglückenden Schweizer Kinderbuchautorin schon durch
die leiseste Kritik beschmutzt sahen, warfen ihr die andern der Reihe nach vor: religiöse Bigotterie, soziale
Verlogenheit, Zivilisationsfeindlichkeit, sexuelle Verklemmtheit und zuletzt auch noch Chauvinismus in Sachen Emanzipation.
Dabei ist auffallend, dass sich die Kritik praktisch auf den deutschen Sprachbereich beschränkt, während von der
Gesamtauflage ihrer Bücher - weit über 20 Millionen! - der überwiegende Teil in anderen Sprachen erschien.
Ausserhalb Europas jedenfalls freuen sich zahllose Kinder nach wie vor unbeschwert an ihrem Alpenkind Heidi, begleiten es mit
neugierigem Interesse in die grosse Stadt Frankfurt und erleben mit ihm zusammen all die betrüblichen und doch wieder
ulkigen Begebenheiten bei Klara Sesemann, Fräulein Rottenmeier, Sebastian, Tinette und wie sie alle heissen, bis Heidi
dann zur Freude ihrer Fans wieder auf die Alp zurückkehren darf zum knorrigen Öhi, dem lebenstüchtigen
Geissenpeter und zu Bärli und Schwänli, den Lieblingsgeissen. A propos Frankfurt: noch im März 2019 wurde im
Frankfurter Stadtparlament leidenschaftlich darüber diskutiert, ob man nicht Heidi ein Denkmal in der Stadt errichten
solle - "eine naturalistische Statue" forderte die Partei BFF (Bürger für Frankfurt) - , was dann aber vom
Kulturdezernat zurückgewiesen wurde mit dem Argument, eine Heidi-Statue wäre keine Werbung für die Stadt, habe
Johanna Spyri doch "vor allem ein romantisches, idealtypisches Bild der Schweiz geschaffen, zu dem Frankfurt kontrastiv in
schlechtem Licht dasteht: als krankmachende Grossstadt." Wie dem auch sei: Den kleinen Japanern und Amerikanern, die Heidi in
Comic-Strips, am Fernsehen oder im Hörspiel kennenlernen, ist es vollkommen egal, wer die Frau war, die im fernen
Heidiland vor Urzeiten einmal Bücher schrieb mit altklugen Titeln à la "Heidis Lehr-und Wanderjahre" oder "Heidi
kann brauchen, was es gelernt hat". Es interessiert sie keinen Deut, ob Johanna Spyri für oder gegen Emanzipation war und
ob sie ausser ihrem Stadtschreiber noch einen andern - vielleicht gar Heinrich Leuthold? - liebte oder nicht. Für sie ist
ihr Heidi - und welcher Autor wünscht dies nicht seinen Geschöpfen! - autonom und unverwüstlich geworden. Aber
nicht als Klassiker, approbiert und gutgeheissen von Gelehrten und Bücherwürmern, sondern als Schwester von Donald
Duck und Mickey Mouse. Und wenn nun doch wieder einmal ein erwachsener Europäer alle Warnungen in den Wind schlüge,
den ersten Band Heidi läse, davon hell begeistert wäre und hilfesuchend nach der germanistischen Beurteilung und
Einordnung dieses und aller anderen Spyri-Texte rufen würde? Da könnte ihm zumindest der Schreibende mangels
Japanischkenntnissen nicht helfen, denn die einzige Gesamtausgabe von Johanna Spyris Werken ist 1962 in Tokio
zwölfbändig in ebendieser Sprache erschienen ...
Beitrag im "Züriberg" vom 19. September 2019