In der Bischofsstadt ist, angezettelt durch Kirchenrat Merdieusin, eine regelrechte Verschwörung im Gange. Weil der alternde Bischof Chenon sein Amt nur mit Mühe ausüben kann und das böse Wort von der «Herde ohne Hirt» die Runde macht, wenden sich die Chorherren heimlich an den Papst, damit dieser den amtierenden Stiftspropst zum Koadjutor mit dem Recht der Nachfolge ernenne. Noch ist die Bittschrift nicht verschickt, als durchsickert, Chenon seinerseits habe Rom bereits einen Nachfolger vorgeschlagen: den völlig ausserhalb des Pfarreilebens stehenden Kapuzinerpater Innocent!
Wie nun der Gymnasiast Lucien Maillotin in dieses Intrigenspiel eingreift und angesichts von soviel Korruptheit und Opportunismus an seiner Berufung zum Priestertum irre wird, wie der Kirchenherr Merdieusin über eine von niemandem für möglich gehaltene Liebschaft stolpert und wie das Bistum am Ende doch noch zu einem neuen Oberhirten kommt, auch wenn dabei einige Erwartungen enttäuscht werden – das ist, grob vereinfacht, der Inhalt des 1942 erschienenen Romans «Le Troupeau sans berger»von Léon Savary. Das Buch, das unter dem Titel «Die Herde ohne Hirt»von Werner Johannes Guggenheim 1943 auch meisterlich ins Deutsche übertragen wurde, stellt mit seiner liebenswürdigen Ironie, seiner kunstvollen Dialogführung und mit seiner lebendigen Figurenzeichnung die im Vergleich dazu geradezu naiven Priesterromane Heinrich Federers weit in den Schatten und bietet auch demjenigen eine anregende Lektüre, der an klerikalen Intrigen sonst nicht sonderlich interessiert ist. «Die Herde ohne Hirt»ist nämlich nicht bloss der Roman eines Berufsstandes, es ist auch ein Roman über die Stadt Freiburg, die für den genuinen Satiriker Savary beides zugleich ist: ein kleines Rom und ein grosses Romont!
Was dieses politische und klerikale Freiburg betrifft, so hatte Savary den Romanstoff quasi aus erster Hand, war der aus der Waadt stammende junge Konvertit doch nicht nur enger Vertrauter von André Bovet, dem Urbild seines Bischofs Chenon, sondern auch Sekretär von Georges Python gewesen, der jahrzehntelang die Freiburger Politik dominiert hatte. Obwohl ihn die Freiburger Justiz 1920 eines vom Redaktor mutwillig veränderten satirischen Artikels wegen ins Gefängnis steckte und er sein restliches Leben als Journalist in Genf, Bern, Paris, Vevey und Bulle zubrachte, war und blieb die Stadt an der Saane Savarys bevorzugter literarischer Schauplatz. Ihr sind seine anderen, ebenfalls um das Geheimnis des Religiösen und dessen unvollkommene irdische Verwirklichung kreisenden Romane «Au Seuil de la sacristie»und«Le Secret de Joachim Ascalles»verpflichtet, und ihr widmete er unter dem Titel «Fribourg»1921 auch eine eindringliche essayistische Studie. Einmal nur geriet die ganze Schweiz ins Visier von Savarys Polemik: 1949, in den «Lettres à Suzanne», der wohl bissigsten Abrechnung mit der Anpassungspolitik der Schweiz im Zweiten Weltkrieg.