Adrien Turel 1890–1957

Am Berliner Leibniz-Gymnasium pflegte ihn der Deutschlehrer mit Goethe zu vergleichen. Er selbst aber winkte später bescheiden ab: «Bei mir liegen die Dinge etwas anders als bei Goethe, weil bei mir die Dichtung keine Ausflucht aus dem praktischen Leben bedeutet.» Dem «praktischen Leben» der gesamten Menschheit wollte er denn auch zeitlebens seinen Stempel aufdrücken. In direkter Nachfolge Christi, Buddhas, Nietzsches, Marx’ und Engels’ sah er sich zumindest als Karl Marx des 20. Jahrhunderts, und wie dessen Saat erst in einem späteren Jahrhundert aufgegangen ist, gehörte auch sein eigenes «welthistorisches Programm», wie er immer wieder betonte, schon ganz dem kommenden Zeitalter des «Ultratechnoikums» an. Die Rede ist von Adrien Turel, am 5. Juni 1890 als Vaudois in Russland geboren, von Kind auf halbseitig gelähmt, Literat und Psychoanalytiker im Berlin der ersten Nachkriegszeit, ab 1934 als Philosoph und «Sozialphysiker» in Zürich ansässig, wo er am 27. Juni 1957 starb. Was Turel vorschwebte, war der «vierdimensionale Mensch», eine Art «demokratischer Übermensch», welcher mit den Mitteln des atomaren «Ultratechnoikums» ein paradiesisches Kapitel der Menschheitsgeschichte heraufführen würde. 30 000 Manuskriptblätter füllte der von den Segnungen der Atomkraft Überzeugte mit Thesen und Entwürfen dazu: Pamphlete, Gedichte und Abhandlungen, die mit ihren verblüffenden Formulierungen den oftmals widersprüchlichen Gehalt an Bedeutung bei weitem übersteigen. In der Weimarer Republik fand er eine gewisse Beachtung, in der Schweiz wurde der Heimkehrer als verqueres Genie und Alkoholprophet belächelt. Als niemand ihn mehr drucken wollte, produzierte er im Selbstverlag weiter. Lucie Turel-Welti, die vermögende zweite Ehefrau, unterstützte ihn dabei und führte das Unternehmen nach seinem Tod als «Stiftung Adrien Turel» unverdrossen weiter. Turel deutete die Erfolglosigkeit seines Welterneuerungsversuchs sarkastisch als Resultat eines «Erfolgsstreiks» und nannte seine Memoiren 1956 keck «Bilanz eines erfolglosen Lebens». Insgeheim aber wusste er durchaus, was ihn zum Ketzer machte. «Nun habe ich mich», steht in einem Brief von 1939, «wie fast jede Nacht, durch das Schreiben aus den Angstvorstellungen, verrückt zu werden, herausgearbeitet ...» Und auf einem Blatt des Nachlasses steht zu lesen: «Ein grosser Mann hat es schwer! Erst muss ich die grossen Gedanken haben, dann muss ich Alkohol trinken, um den Mut zu bekommen, sie niederzuschreiben. Dann muss ich meine Frau betäuben, ihr das Geld stehlen, um die Bücher drucken zu lassen. Und dann muss ich meine Freunde mit vorgehaltenem Revolver zwingen, die Bücher zu lesen.» Spätestens hier aber werden die Nachgeborenen Turel in den Arm fallen. Mit Lyrik und Philosophie dürften zwar auch sie ihre liebe Mühe haben, dafür aber werden sie seine Romane, gleichsam das Nebenprodukt seines Theoretisierens, umso höher schätzen. Den Science-Fiction-Krimi «Die Greiselwerke», der die Möglichkeiten der von Turel selbst für segensreich gehaltenen modernen Technik ad absurdum führt, die köstlich satirische «Reise einer Termite zu den Menschen» oder den verräterisch autobiografischen Roman «Die zwölf Monate des Dr. Stulter» jedenfalls liest man auch heute noch mit grossem Vergnügen zu Ende, ohne dass einem der Verfasser mit dem Revolver zu drohen braucht!



Turel, Adrien

*St.Petersburg 5.6.1890, †Zürich 29.6.1957, Schriftsteller. Nach Studien in Berlin fand der aus der Waadt stammende, als Hilfslehrer arbeitende T. durch M. Hirschfeld und H. Körber Zugang zur Psychoanalyse, der er sich bis 1933 als Analytiker widmete. Gleichzeitig publizierte er Gedichte, Dramen und Essays und arbeitete an einer Weltlehre, die naturwiss., astronom., psycholog. und anthropolog. Elemente miteinander verknüpfte und in der Theorie vom »vierdimensionalen Menschen« gipfelte, der mit den Mitteln des atomaren »Ultratechnoikums« ein neues, paradiesisches Kapitel der Menschheit herbeiführen sollte. Nach kurzer Inhaftierung floh T. 1934 aus dem nat.-soz. Deutschland nach Zürich, wo er an seinem Ideengebäude weiterarbeitete. Zugänglicher als seine ebenso bewunderten wie umstrittenen, höchst problemat. Theorien sind seine eigenwilligen Gedichte (»Weltleidenschaft«, 1940; »Ergreif das Heute!«, 1954; »Weltsaite Mensch«, 1960) bzw. seine autobiograph. Schriften (»Bilanz eines erfolgreichen Lebens«, 1957; »Bilanz II. Rechenschaftsbericht eines ewig Arbeitslosen«, hg. 1959; »Ecce superhomo!«, 1960), von denen H. Loetscher in »Bilanz eines erfolgreichen Lebens« (1976) eine kommentierte Auswahl veröffentlichte. Theorie und Dichtung zusammenzubringen vermochte T. in seinen erstaunl. Romanen »Die Greiselwerke« (1942), »Reise einer Termite zu den Menschen« (1960) oder »Die zwölf Monate des Dr. Ludwig Stulter« (1959). Die von seiner zweiten Frau Lucie T.-Welti 1958 gegr. Stiftung A.T. macht sein Werk in neuen Ausgaben zugänglich. … Lit.: Bondy, F./Schumacher, H./Häsler, A.A., u.a.: A.T., Zürich 1974; Kraft, M.: A.T., Nachwort zu A.T. »Die Greiselwerke«, nhg. von C. Linsmayer, Zürich 1981; Eberhardt, H.: Experiment Übermensch. Das literar. Werk A.T., Zürich 1984; Eberhardt, H./Bortlik, W. (Hg.): A.T. zum 100. Geburtstag, Aarau 1990. (Schweizer Lexikon)



Turel, Adrien

* 5. 6. 1890 St. Petersburg, † 29. 6. 1957 Zürich. - Psychoanalytiker, Philosoph; Essayist, Lyriker, Erzähler.

Der Sohn eines in russ. Diensten stehenden Schweizer Gymnasiallehrers u. einer preuß. Mutter wurde mit drei Monaten von einer Lähmung befallen, die ihn für immer behinderte. Ab 1891 wuchs T. am Genfersee französischsprachig auf, bis die Familie nach dem väterl. Bankrott 1900 nach Berlin übersiedelte, wo er das Leibniz-Gymnasium besuchte u. ab 1912 Germanistik, Romanistik u. Geschichte studierte. 1917 kam er durch Magnus Hirschfeld u. Heinrich Körber mit der Psychoanalyse in Berührung, der er sich fortan unter Aufgabe des Studiums als Analytiker u. Propagandist engagiert widmete. Seit dem Debüt mit dem expressionistisch beeinflußten Lyrikband Es nahet gen den Tag (Wolgast 1918) publizierte T. auch Gedichte, Dramen (Christi Weltleidenschaft. Bln. 1923) u. Essays (Selbsterlösung. Ebd. 1919. Die Eroberung des Jenseits. Ebd. 1931) u. entwickelte allmählich eine eigene »Weltlehre«, die naturwissenschaftl., astronomische, psycholog. u. anthropolog. Elemente miteinander verschmolz u. in der Theorie vom »vierdimensionalen Menschen« gipfelte, der mit den Mitteln des atomaren »Ultratechnoikums« ein neues, paradiesisches Kapitel der Menschheit herbeiführen sollte. Zusammenfassend ist dies dargestellt in Die Eroberung des Jenseits (Zürich 1944), Von Altamira bis Bikini (ebd. 1947) u. - faßlicher - in Bilanz eines erfolglosen Lebens (Bd. 1, ebd. 1956. Zürich/Hbg. 1989. Bd. 2: Rechenschaftsbericht eines ewig Arbeitslosen. Ebd. 1959. Ausw. hg. von Hugo Loetscher. Frauenfeld 1976). Auch T.s Lyrik, die in den Bänden Weltleidenschaft (Zürich 1940) u. Vom Mantel der Welt (ebd. 1947) ihren Höhepunkt erreichte u. nach expressionistischen Anfängen eher dem philosophischen Lehrgedicht zuneigte, steht fast ganz im Banne seiner eigenwillig-genialischen Weltschau.
Um 1930 stand T. in enger Beziehung zu Harro Schulze-Boysen u. der kommunistischen Gruppe um die Zeitschrift »Der Gegner«, in deren Schriftenreihe 1932 sein Essay Recht auf Revolution (Bln.) erschien. Wohl dieser Beziehungen wegen wurde T. nach Hitlers Machtantritt vorübergehend inhaftiert. 1934 kehrte er über Paris in die Schweiz zurück u. lebte, ab 1947 unterstützt durch seine vermögende zweite Frau Lucie Turel-Welti, als »Sozialphysiker« u. freier Autor in Zürich. Abgeschnitten von seinen dt. Freunden u. froh, für seine Arbeiten überhaupt noch einen Verlag zu finden, versuchte T. während des Zweiten Weltkriegs, seine Ideen in unterhaltsame, z. T. sogar vergnügl. Romane zu kleiden. So entstanden der Science-fiction-artige Kriminalroman Die Greiselwerke (Zürich 1942. Neuausg. 1981) sowie die Satire Reise einer Termite zu den Menschen (ebd. 1960. 1983) u. der autobiographisch inspirierte Entwicklungsroman Die zwölf Monate des Dr. Ludwig Stulter (ebd. 1959. 1984), die beide erst postum durch die 1958 von Lucie Turel-Welti gegründete »Stiftung Adrien Turel« ediert wurden. T.s denkerische Brillanz u. Vertrautheit mit der europ. Geistesgeschichte wird augenfällig in Bachofen - Freud. Zur Emanzipation des Mannes vom Reich der Mütter (Bern 1938) oder in dem erstaunl. Roman über Marschall Moritz von Sachsen, Voltaire u. andere, Dein Werk soll deine Heimat sein (Zürich 1942). Angesichts seines noch weitgehend unaufgearbeiteten Nachlasses - er liegt in der Zentralbibliothek Zürich - u. in Ermangelung einer verläßlichen Werkanalyse ist es unmöglich zu entscheiden, ob T. nur ein »hochbegabter Wirrkopf« (Robert Jungk) oder tatsächlich ein der Zeit vorauseilender prophetischer Denker gewesen ist.

LITERATUR: François Bondy, Alfred A. Häsler u. a.: A. T. Zürich 1974. - Martin Kraft: A. T. Nachw. zu «Die Greiselwerke». Neu hg. v. Charles Linsmayer in: «Frühling der Gegenwart». Bd. 7, ebd. 1981. - Hugo Eberhardt: Experiment Übermensch. Das literar. Werk A. T.s Ebd. 1984. - Ders. u. Wolfgang Bortlik (Hg.): A. T. zum 100. Geburtstag. Aarau 1990. (Bertelsmann Literaturlexikon)