Die Aufzeichnungen eines Jägers: Ivan Turgeniew (1818-1883)

Als ein «gefährliches Schriftstück», das geeignet sei, «bei den niederen Schichten Respektlosigkeit gegen ihre Herren zu wecken», bezeichnete der russische Erziehungsminister 1852 in einem Geheimbericht die eben in zwei Bänden erschienen «Aufzeichnungen eines Jägers». Inmitten breit angelegter Naturschilderungen, die manchmal die Menschen förmlich verschwinden lassen, erzählt dieser Jäger vom Schicksal und vom Leben der leibeigenen Bauern im zaristischen Russland der vierziger Jahre des 19.Jahrhunderts. Vom Pferdeburschen Kalinyc, von Vasja, der das Loblied des brutalen Gutsherrn singt, vom Fischer Kuzma, der nach Lust und Laune gekauft, verkauft oder vererbt wird, vom Kammerdiener Viktor, der in seiner Stellung zu vornehm wird für das einfache Bauernmädchen, das ihn liebt. Obwohl die Unterdrückung des Volks durch die «Seelenbesitzer» drastisch geschildert wird und die Bauern ihren Herren vielfach geistig überlegen sind, sind die Erzählungen nicht eigentlich revolutionär, sondern wirken gerade darum so stark, weil nichts kommentiert oder analysiert ist, sondern nur ganz nüchtern erzählt wird. Ivan Turgeniew (1818-1883), der Verfasser der Sammlung, hat später gewichtigere Werke geschrieben: die Romane «Väter und Söhne» bzw. «Das Adelsnest», das Schauspiel «Ein Monat auf dem Lande» oder die Novelle «Drei Begegnungen», die seine Liebe zur Schauspielerin Pauline Viardot-Garcia feiert. Und doch bewegt und berührt einen kaum noch etwas so stark wie diese ersten Texte, in denen den Ausgebeuteten und Entrechteten eine Stimme gegeben wird: die Stimme eines grossen Erzählers und feinsinnigen Impressionisten der russischen Seele und Landschaft.