Robert Walser

Er heisst Simon Tanner und steht im Mittelpunkt von Robert Walsers Roman-Erstling Geschwister Tanner (1907). Weder bei einer Arbeit noch bei einem Menschen hält es der ruhelose Taugenichts längere Zeit aus, und in Sachen Erotik schwankt er hin und her zwischen altkluger Schwärmerei, masochistischen Träumen und inzestuöser Fixierung. Wenn er sich nicht gerade in irgendeinem Büro langweilt, geniesst er das Leben als Spaziergänger und Flaneur, und bisweilen verlegt er sich auch auf schriftstellerische Versuche, die er alsbald wieder zerreisst. Das alles wird in heiter-unbeschwertem Tonfall erzählt, und es braucht lange, bis der Leser merkt, dass Simons Fröhlichkeit aus Qual geboren ist, dass sein Verhalten mit Krankheit zu tun hat, dass er eine von jenen Walserschen Figuren ist, für die Walter Benjamin schon 1929 angemerkt hat, dass sie »aus dem Wahnsinn und nirgendher sonst« kämen. »Es sind Figuren, die den Wahnsinn hinter sich haben und darum von einer so zerreissenden, so ganz unmenschlichen, unbeirrbaren Oberflächlichkeit bleiben. «
Was den Inhalt kennzeichnet, bestätigt die Sprache, die dem Leser von 1907 verwildert und unbeholfen vorkommen musste. Hermann Hesse sogar, orthodoxer Sprachbewahrer und dennoch Walser-Fan, ärgerte sich über »Sorglosigkeiten und Frechheiten«, und dass der Roman überhaupt gedruckt wurde, verdankte er bezeichnenderweise dem Nonsens-Poeten Christian Morgenstern.
Achtzig Jahre danach gehört Geschwister Tanner mit Walsers übrigem, inzwischen zu einer imposanten Gesamtausgabe vereintem Werk unangefochten zu den klassischen Texten der Moderne. Ein Erfolg, der sich einzig damit schlüssig erklären lässt, dass die Zeit für diesen Dichter gearbeitet hat. Sein aus den Tiefen der inneren Verletztheit gespiesenes Œuvre ist im Zeitalter der Psychoanalyse und des Autoritätenzerfalls vor allem deshalb auf ein derart breites Verständnis gestossen, weil Krankheit und Verstörung nach den Katastrophen zweier Weltkriege und angesichts der drohenden Apokalypse sozusagen Allgemeingut geworden sind. Anders gesagt: Die Entfremdung von Mensch und Arbeit, die Problematisierung der Sexualität, die Hinfälligkeit aller Bindungen, die Auflösung des Gesprächs in ungehört verhallende Monologe - all das, was Walser z. B. in Geschwister Tanner so eindringlich darstellte, ist heute zur täglichen Erfahrung Tausender geworden. Und Walsers Sprache erst, dieses Faszinosum an spielerischer Naivität, das Eichendorff gleichermassen wie Karl Valentin zu Paten haben könnte: wie erfrischend originell und unliterarisch klingt sie doch in ihrer »ganz ungewöhnlichen, schwer zu beschreibenden Verwahrlosung« (Benjamin) für die Ohren einer Generation, die mit den Sprechblasen von Comic-Strips und den Kalauern der Werbetexter programmiert wird, während Grammatik, Orthographie und Stilistik längst zu unbekannten Fremdwörtern geworden sind!
Geschwister Tanner ist als Suhrkamp-Taschenbuch 1109 und in der Ex Libris-Edition »Frühling der Gegenwart« (Nachwort: Peter Bichsel) greifbar, (Literaturszene Schweiz).

Bieler Tagblatt vom 04.07.2019