Maria Waser

Ein Aufatmen ging durch den Saal, als Maria Waser 1922 ans Pult des Lesezirkels Hottingen trat. In ihrer »klaren, gefestigten und von den zersetzenden Mächten der Zeit nicht angekränkelten Persönlichkeit« - so der Chronist - repräsentierte die Dichterin mit Zucht und Disziplin nochmals all die hehren Idealeienes Bildungsbürgertums, dem der Weltkrieg woanders bereits den Todesstoss versetzt hatte. Und heute? Wer sich mit idyllischem Behagen nicht begnügt, kann ein halbes Jahrhundert danach Maria Wasers Werke nur noch gegen den Strich lesen: auf der Suche nach dem, was sie an gelebtem Leben verdrängen mussten. Dann jedoch verwandelt sich einem die noble, aber altmütterische Dichterin unversehens in eine tieftragische Gestalt!
Sinnbild des Lebens, ihr letztes Buch, zeigt, wie wohlbehütet sie im gebildeten Doktorhaus von Herzogenbuchsee aufwuchs, bis sie mit siebzehn als einziges Mädchen im Berner Knabengymnasium Einzug hielt. Dann aber, als die erste Liebe drankäme, folgt unvermittelt das Lob der Mütterlichkeit: Als Gattin und Mutter komme die Frau sich zwar abhanden, diese »Gefangennahme« bedeute jedoch »eine Weitung, eine Befreiung, neben der jede andere Freiheit eng erscheint«. Was wird verdrängt? Die Tatsache, dass Rektor Georg Finsler unsterblich in seine einzige Schülerin verliebt war, sie Tag und Nacht überwachte und am Verkehr mit dem gleichaltrigen Freund hinderte. Und all dies mit Wissen der Mutter, die der Tochter durch den Altphilologen, dem sie fast täglich schrieb, die bestmögliche antike Bildung bieten wollte ...
Dem Idealismus, den die Berner Nausikaa so eingeimpft bekam, waren irdische Liebhaber nicht gewachsen, und schon 1898, als der erste schliesslich kapitulierte, musste Maria erfahren, was jenes »frauliche Entsagen«, das Leitmotiv ihrer Dichtung, wie es vor allem in ihrem berühmtesten Roman, der Geschichte der Anna Waser, zelebriert ist, tatsächlich bedeutete. 1904, nachdem ihr die Mutter einen leidenschaftlichen Südländer ausgeredet hatte, heiratete die frischgebackene Redaktorin der Schweiz in Zürich überstürzt ihren Arbeitgeber, den Altphilologen und Finsler-Freund Otto Waser. Mit ihm erlebte sie nun das Glück der Mutterschaft, mit ihm vertiefte sie sich, während sie gleichzeitig zu einer fahrenden Kritikerin der zeitgenössischen Schweizer Literatur avancierte, weiter in die antike Kultur. Als sie aber dem Freund von 1898 wieder begegnete, loderte die Glut plötzlich neu auf. Die Wende (1928) stellt verschlüsselt dar, wie sie sich auch diesmal zum Verzicht durchrang. Sie wusste, was sie ihrem Ruf schuldete. Dass die Migräne immer heftiger wurde und sie ihr Altsein übermässig betonte, gehörte ja ins Privatleben. Nur einmal noch drang etwas nach aussen: Als sie sich in beispielloser Begeisterung dem Gehirn-Anatomen von Monakow zuwandte, an dessen unerwartetem Tod sie dann beinahe zerbrach. Begegnung am Abend (1933) heisst das Resultat dieser letzten heimlichen Liebe. Äusserlich aber spielte sie ihre Rolle tapfer zu Ende. Bereits unheilbar krebskrank, hielt die Zürcher Literaturpreisträgerin Ende 1938 eine lange patriotische Rede. Einen Monat später starb sie mit 60 Jahren an jenem Leiden, dessen seelische Wurzeln wir inzwischen deuten lernten. »Ein Opfer«, lautete ihr Wahlspruch, »hat nur dann einen Wert, wenn man verheimlicht, dass es eines ist. «
(Literaturszene Schweiz)

Waser, Maria

Geb. Krebs, *Herzogenbuchsee (BE) 15.10.1878, †Zollikon (ZH) 19.1.1939, Schriftstellerin. Als Tochter eines Landarztes wuchs W. in Herzogenbuchseeauf, besuchte ab 1894 – zunächst als einziges Mädchen – das Berner Städt. Gymnasium und studierte 1897-1901 in Lausanne und Bern Geschichte und Literaturwiss. Nach der Promotion war sie 1904-19 in Zürich bei der Kulturztschr. »Die Schweiz« tätig und heiratete 1904 ihren Mitredaktor, den späteren Prof. für Archäologie Otto W. (*1870, ƒ1952). Als »Schweiz«-Redaktorin übte W. im Sinne ihres Mentors, des konservativ orientierten J.V. Widmann, bestimmenden und fördernden Einfluss auf die zeitgenöss. Schweizer Literatur aus, bot aber auch Autoren wie A. Zollinger oder R. Walser erste Publikationsmöglichkeiten. Ihren Erstling »Die Geschichte der Anna Waser« (R., 1913) legte sie relativ spät vor, vermochte sich jedoch mit der Geschichte, die eine Malerin aus dem 17. Jh. aus innerem Engagement heraus wieder lebendig macht, rasch einen Namen zu schaffen. Auf die histor. Novellen des Bandes »Von der Liebe und dem Tod« (1919) – diejenige vom »Jätvreni« wurde ihr meistgelesener Text überhaupt – folgte »Wir Narren von gestern« (R., 1922). Autobiograph. waren der Roman »Die Wende« (1929), die Beschreibung ihrer Heimat in »Land unter Sternen« (1930) und »Sinnbild des Lebens« (1936). »Begegnung am Abend« (1933) war die Frucht der Freundschaft mit dem bed. dt. Gehirnforscher C. von Monakow. W., die sich in Reden wie »Die Sendung der Frau« (1928) für die gesellschaftl. Besserstellung der Frau einsetzte und sich mit dem Vortrag »Lebendiges Schweizertum« (1934) auch über die Zukunft der Schweiz angesichts der faschist. Bedrohung Gedanken machte, erhielt 1938 als erste Frau den Literaturpreis der Stadt Zürich. 1944 gab Otto W. den Nachlassband »Nachklang« heraus. … Lit.: Gamper, Esther: Frühe Schatten, frühes Leuchten. M.W. Jugendjahre, Frauenfeld 1945; dies.: Werden/Wachsen/Wirken, Nachwort zu M.W., Ges. Werke, Bd. 3, Frauenfeld 1959; Küffer, G.: M.W., in: Schweizer Heimatbuch, 152, Bern 1971. (Schweizer Lexikon)



Waser, Maria

* 15. 10. 1878 Herzogenbuchsee/Kt. Bern,, † 19. 1. 1939 Zollikon/Kt. Zürich. - Erzählerin, Essayistin, Redakteurin.

Die Tochter des Landarztes Walther Krebs wuchs, wie sie in ihrem Roman Sinnbild des Lebens (Stgt. 1936) aus der Verklärung des Alters heraus darstellt, in Herzogenbuchsee auf, besuchte ab 1894 - zunächst als einziges Mädchen! das Berner Städtische Gymnasium u. studierte 1897-1901 in Lausanne u. Bern Geschichte u. Literaturwissenschaft. Nach der Promotion u. einem zweijährigen Italienaufenthalt war W. 1904 bis 1919 in Zürich als Redakteurin der Kulturzeitschrift »Die Schweiz« tätig u. heiratete 1904 ihren Mitredakteur, den späteren Archäologieprofessor Otto Waser (1870-1952). Als »Schweiz«-Redakteurin übte W. im Sinne ihres Mentors, des konservativ orientierten Josef Viktor Widmann, bestimmenden u. fördernden Einfluß auf die zeitgenöss. Schweizer Literatur aus, bot aber auch Autoren wie Albin Zollinger oder Robert Walser erste Publikationsmöglichkeiten u. war trotz ihrer Vorliebe für die Welt der Antike eine begeisterte Verehrerin des zunächst heftig umstrittenen Ferdinand Hodler (vgl. dazu Wege zu Hodler. Zürich 1927). Mit ihrem eigenen literar. Erstling, dem histor. Frauen- u. Künstlerroman Die Geschichte der Anna Waser (Stgt. 1913), in dem das Leben einer Malerin aus dem 17. Jh. vergegenwärtigt wird, vermochte W. sich rasch einen guten Namen zu schaffen. Auf die histor. Novellen des Bandes Von der Liebe und dem Tod (ebd. 1919) - diejenige vom Jätvreni wurde W.s meistgelesener Text überhaupt - folgte der zweite Roman, Wir Narren von gestern (ebd. 1922), die Geschichte einer leidgeprüften Familie, vorgetragen von einem buckligen alten Mann. Stärker autobiographisch war der nächste Roman, Die Wende (ebd. 1929), den W. selbst als »rückhaltlos ehrlich« bezeichnete u. der eine Liebesbegegnung u. die dadurch hervorgerufene, durch Verzicht bewältigte Krise schildert. Auf die romanhafte Beschreibung ihrer Kinderheimat Herzogenbuchsee in Land unter Sternen (ebd. 1930) folgten Begegnung am Abend (ebd. 1933), die literar. Frucht der Freundschaft mit dem Gehirnforscher Constantin von Monakow, sowie der autobiograph. Roman Sinnbild des Lebens (ebd. 1936). W., die sich in Äußerungen wie Die Sendung der Frau (Bern 1928; Rede) auf diplomatisch kluge, aber bestimmte Weise für die gesellschaftliche Besserstellung der Frau einsetzte u. sich mit dem vielbeachteten Vortrag Lebendiges Schweizertum (Zürich 1924) auch zur Zukunft der Schweiz angesichts der faschistischen Bedrohung äußerte, erhielt im Dez. 1938, einen Monat vor ihrem Tod, als erste Frau den Literaturpreis der Stadt Zürich.

WEITERE WERKE: Nachklang. Texte aus dem Nachl. Hg. Otto Waser. Frauenfeld 1944. - Ges. Werke in 3 Bdn. Hg. Esther Gamper. Ebd. 1946-59. - Von der Liebe u. vom Leben. Eine illustrierte Anth. Stäfa 1990.

LITERATUR: Esther Gamper: Frühe Schatten, frühes Leuchten. M. W.s Jugendjahre. Frauenfeld 1945. - Werner Günther: M. W. In: Dichter der neueren Schweiz. Bd. 1, Bern 1963. - Georg Küffer: M. W. Schweizer Heimatbuch 152. Ebd. 1971.
(Bertelsmann Literaturlexikon)