Urs Widmer 1938–2014
Er sei «ein Bürgerkind, eher in Büchern aufgewachsen als im Geld», hat Urs Widmer, geboren am 21. Mai
1938 in Basel, einmal gesagt, aber während das mit den Büchern reiche Früchte trug, ist das
«Bürgerliche» gleich wieder zu relativieren, war sein Vater, der leidenschaftliche Übersetzer, doch eher
ein Anarchist, während seine Mutter, aus Italien stammend, die Regeln der Bürgerlichkeit unterlief, wo sie nur
konnte. Beiden hat Widmer in späten Jahren ein Denkmal gesetzt: der Mutter 2000 in «Der Geliebte der Mutter»,
wo ihre heimliche Liebe zu Paul Sacher thematisiert und humorvoll karikiert ist, dem Vater 2004 im «Buch des
Vaters», das unter anderem zeigt, wie anregend und herausfordernd dieser Walter Widmer für das Werk des später
berühmt gewordenen Schriftstellersohnes war. Auch nur anzudeuten, was dieses Werk umspannt, ist schon fast zu viel:
«Alois», der avantgardistische Erstling von 1968, geschrieben von einem Suhrkamp-Lektor auf einer himmelblauen
Olivetti in einem Estrich im Frankfurter Westend, betreut und umsorgt von seiner ersten Leserin May Perrenoud, der er sein
Leben lang treu bleiben sollte; die fantastische «Forschungsreise» von 1974 und die Science-Fiction-Parodie der
«Gelben Männer» von 1976, die hinreissende «Liebesnacht» von 1982 und, nach der Übersiedlung
von Frankfurt nach Zürich, der an Nabokov erinnernde total verrückte «Kongress der
Paläolepidopterologen». Und schliesslich «Der blaue Siphon» von 1992, das den Erwachsenen an den Ort
und in die Zeit der Basler Kindheit zurückführt und Urs Widmers Durchbruch zum Weltautor bedeutete. Nicht zu reden
von den Stücken, mit denen er das Theater neu aufmischte: «Frölicher – ein Fest» (1992) über den
Schweizer Gesandten im Dritten Reich, «Jeanmaire. Ein Stück Schweiz» (1992) über einen als
Landesverräter verurteilten hohen Offizier, und schliesslich 1996 «Top Dogs», das mit Volker Hesse zusammen
produzierte sprachlich brillante Stück über entlassene Manager, das nach wie vor auf der ganzen Welt gespielt wird.
Als Spätwerk erscheinen uns nach Urs Widmers Tod am 2. April 2014 der wunderbare Roman «Ein Leben als Zwerg»
von 2006, wo er mit dem Gummizwerg, den er lebenslang auf seinem Pult hatte, nochmals ins Elternhaus zurückkehrt, und
«Herr Adamson» von 2009, wo die Mythologie der Vortoten, die den im Augenblick ihres Todes geborenen Menschen ein
Leben lang heimlich begleiten, zum Faszinosum wird. Wunderbar abgerundet aber hat Urs Widmer sein Œuvre mit dem an seinem
Todestag erschienenen letzten Buch «Reise an den Rand des Universums», das die ersten dreissig Jahre seines Lebens
Revue passieren lässt, sich als Autobiografie ausgibt, aber ebenso fantasievoll drauflosflunkert wie alle seine anderen
Bücher auch. Mit Urs Widmer stehe neunzig Jahre nach Spitteler ein Autor für den Nobelpreis zur Debatte, schrieb der
Verfasser 2009 namens des schweizerischen PENClubs nach Stockholm, «der das Dasein, ohne je der blossen Unterhaltung das
Wort zu reden, auf seine unverwechselbar eigene, leichte, sprachmächtige und fantasievolle Weise zu einer
abgründigen Komödie macht und der mit seinen besten Satiren durchaus in der Nachfolge eines François
Rebelais, eines Mark Twain oder eines Ambrose Bierce steht».