Heinrich Federer 1866–1928
Sie müssten im Zeichen der Neubesinnung der katholischen Kirche eigentlich brennend aktuell sein, die Erzählungen
Heinrich Federers: «Sisto e Sesto», die Geschichte vom Terroristen, der bei Papst Sixtus V. Gnade findet, nachdem
diesem bewusst geworden ist, was für eine soziale Notlage ihn zum Verbrecher gemacht hat. «Das letzte
Stündlein des Papstes», wo Innozenz III. Franziskus ans Sterbebett ruft, dieser aber erst kommt, nachdem er einen
Blinden versorgt und einer Spinne das Netz ausgebessert hat, um den Pontifex dann von all seinem Pomp zu entkleiden und ihn im
einzigen Gewand sterben zu lassen, das ihm angemessen ist: dem der reinen Armut! Lange gehörte er zu den Klassikern der
neueren Schweiz, der am 6. Oktober 1866 in Brienz geborene, unter ärmlichen Verhältnissen in Obwalden aufgewachsene
und über das Studium und die zeitweilige Praktizierung des Priesterberufs zum Journalisten gewordene Heinrich Federer,
dem es bis zu seinem Tod am 29. April 1928 in Zürich gelang, mit Büchern wie «Pilatus», «Berge und
Menschen», «Papst und Kaiser im Dorf» oder «Das Mätteliseppi» nicht nur berühmt,
sondern sogar wohlhabend zu werden, sodass unter den unzähligen Lesern kaum noch einer ahnte, was für schmerzliche
Erfahrungen ihn aus purer Not zum Dichter gemacht hatten. 1902 war Federer als Redaktor der katholischen «Neuen
Zürcher Nachrichten» in Stans unter dem Verdacht verhaftet worden, auf dem Stanserhorn am zwölfjährigen
Emil Brunner, bei dem er eine Art Hauslehrerstelle ausübte, ein «Sittlichkeitsverbrechen» begangen zu haben.
In erster Instanz wegen «unsittlicher Handlungen» verurteilt, vom Obergericht aber wegen Mangels an Beweisen
freigesprochen, stempelte ihn eine Hetzkampagne der Medien zum Verbrecher und wollte auch die Kirche nichts mehr wissen von
ihm, so dass der von allen Geächtete wochenlang herumirrte und nicht einmal mehr wusste, «wo schlafen?», wie
einer seiner beklemmendsten Texte heisst. Auf Wanderungen in Italien fand er nach Jahren wieder zu sich selbst und zu jener
Erzählweise, mit der er zunächst in Zeitschriften und ab 1911 auch als Buchautor sein Publikum begeisterte, wobei
von dem Trauma nicht Hass und Verbitterung, sondern jene gelöste Heiterkeit und das Verständnis für die
Benachteiligten zurückblieb, die Federer vielen Zeitgenossen voraushatte. Längst war er nur noch wenigen
Innerschweizer Getreuen ein Begriff, als hundert Jahre nach jenem Vorfall, den er mit einem tapferen einsamen Leben und einem
im besten Sinn christlichen Œuvre mehr als nur gebüsst hatte, ein Buch von Pirmin Meier erschien, das Federer mit Zitaten
aus den Akten von 1902 unter die damals weltweit angeprangerten pädophilen Priester einreihte und sein Werk als
«Sublimation von Knabenliebe» deutete. Unversehens wurde nun wieder von ihm gesprochen und geschrieben, aber nicht
über sein Werk, sondern in einem für sein literarisches Nachleben vernichtenden Sinn von einem «Fall
Federer». Die Sachsler Heinrich-Federer-Buchhandlung wurde umgetauft, das Federer-Museum geschlossen, der Nachlass bei
Nacht und Nebel ins Berner Literaturarchiv überstellt. Aber vielleicht ist das alles am Ende gar nicht so schlecht,
ermöglicht es doch gerade diese Tabula-rasa-Situation einer jüngeren Generation, Federer ohne konfessionelle
Scheuklappen neu als das zur Kenntnis zu nehmen, was er allen Diffamierungen zum Trotz ist und bleibt: einer jener Schweizer
Autoren aus der Zeit vor dem Zweiten Weltkrieg, die nicht nur den Katholiken, sondern uns allen auch heute noch
Beherzigenswertes zu sagen haben.