Wolfgang Graeser

1926 wurde die bereits 1900 vollendete Bach-Gesamtausgabe um einen 47. Band ergänzt: Die Kunst der Fuge in jener Neuordnung, wie sie der siebzehnjährige Auslandschweizer Wolfgang Graeser 1923 erstmals einer staunenden Öffentlichkeit präsentiert hatte. Stupende Musikalität, mathematisches Flair und grenzenlose Begeisterung hatten dem Gymnasiasten offenbart, was die Gelehrten vergeblich gesucht hatten: den inneren Zusammenhang des lange für unspielbar gehaltenen Alterswerks, das in Graesers Bearbeitung seither Gemeingut der Bach-Verehrer in aller Welt geworden ist.
Als das Werk 1927 in Leipzig erstmals erklang, hatte Graeser sich bereits wieder anderem zugewandt. In seinem Buch Körpersinn huldigte er mit hinreissender Beredsamkeit dem sinnenfrohen Lebensgefühl der Nachkriegsgeneration, wie es sich in Gymnastik, Tanz und Sport manifestierte. Gleichzeitig studierte er in Berlin Mathematik, Physik und Orientalistik, nicht aber Musik - und dies, obwohl er eine Bach-Biographie und weitere Partitur-Neuausgaben plante! Unbekümmert um seine schwer zerrütteten Nerven trieb er seine Studien voran und erlaubte sich erst kurz vor dem Examen ein paar Tage Erholung in den Bergen. Womit wir bei den wenigen Momenten in Graesers Leben angelangt wären, die literarisch dokumentiert sind. Als Zugereister gehörte er nämlich zu jenem Zürcher Freundeskreis, der den Jahreswechsel 1927/28 in einer Adelbodner Skihütte verbrachte und später in Rudolf Jakob Humms Linsengericht zu literarischen Ehren kam. Dort kann jedermann nachlesen, wie wenig Verständnis der berühmte Landsmann im Kreise dieser Schweizer Intellektuellen fand, wie er seines Berliner Idioms wegen gehänselt, als Gelehrten-Karikatur belächelt und als Mensch abgelehnt wurde. Nach Berlin zurückgekehrt, machte Graeser im Februar 1928 mit 21 Jahren seinen Doktor. Dann begeisterte er sich für Ägypten, wohin er im Frühling des gleichen Jahres einen Professor begleiten durfte. Schliesslich suchte er, als sein deutsches Stipendium auslief, verzweifelt nach Arbeit in der Schweiz. Aber nirgends, nicht einmal als Buchhändlergehilfe, fand das weltweit gerühmte Genie in seinem Heimatland eine Stelle. Dennoch war es wohl nicht primär dieses Berufsproblem, sondern ein tiefer sitzendes Unglücklichsein, welches Wolfgang Graeser am 13. Juni 1928 dazu trieb, sich in seinem Zimmer in Berlin-Nikolassee zu erhängen.
Mit seltener Intensität fand sich in diesem strahlenden jungen Idealisten jener Neubeginn verkörpert, der nach der Katastrophe des Ersten Weltkriegs eine glücklichere Epoche anzukündigen schien. Von heute aus gesehen wirkt daher sein Tod, ein Jahr vor der Weltwirtschaftskrise und allem, was dann folgte, wie ein Fanal, das Hoffnungen dämpfte und selbst unter Wohlwollenden einen fatalistischen Zukunftspessimismus aufkommen liess. Möglich, dass Humm etwas wie dies gemeint hat, als er im Spätsommer 1928 seinem Romanmanuskript hinzufügte: »Mir ist dieser Tote auf den Rücken gebunden.«

Humms Linsengericht ist bei Classen, Zürich, und in der Ex Libris-Edition »Frühling der Gegenwart« (Nachwort: Eric Streiff) neu erschienen. (Literaturszene Schweiz)