Oskar Maria Graf 1894–1967

Alles andere als ein Heimatdichter: Oskar Maria Graf

Auf seiner Visitenkarte stand «Oskar Maria Graf. Provinzschriftsteller, Spezialität: ländliche Sachen», und berühmt geworden war er zwischen 1925 und 1929 mit der «Chronik von Flechting», dem «Bayrischen Dekameron» und den «Kalendergeschichten» – Büchern, die an Ganghofer erinnerten und erst bei genauem Hinsehen offenbarten, dass da ein engagierter Sozialist den Bauernroman brillant als Mittel der Aufklärung und Bewusstseinsbildung nutzte. Aber auch die Nöte der städtischen Kleinbürger und Arbeiter waren Graf so sehr vertraut, dass er Gorki und Romain Rolland 1927 mit seinen proletarischen Erinnerungen «Wir sind Gefangene» tief beeindruckte. Die Nazis mussten sie jedenfalls übersehen haben, als sie den Autor, statt seine Bücher zu verbrennen, 1933 zusammen mit Johst, Frenssen, Grimm u. a. auf die Liste der «empfohlenen Literatur» setzten. Worauf Graf sie am 12. Mai 1933 in der Wiener «Arbeiter-Zeitung» unter dem Titel «Verbrennt mich!» dazu aufforderte, seine Bücher gleichfalls «der reinen Flamme des Scheiterhaufens» zu überantworten, damit sie «nicht in die blutigen Hände und die verdorbenen Hirne der braunen Mordbuben» gelangen». Mit dem Erfolg, dass für Grafs Bücher in München ein eigenes Autodafé veranstaltet wurde und er selbst bald einmal zu den pointiertesten und aktivsten Exponenten des Exils zählte. Er protestierte furchtlos gegen den Reichstagsbrandprozess, klagte das deutsche Terrorregime an allen möglichen Kongressen lautstark an und versuchte mit Romanen wie «Der Abgrund» (1936) und «Anton Sittinger» (1937) erzählerisch zu erkunden, wie dem faschistischen Massenwahn am besten zu widerstehen wäre.
In der Schweiz, die er 1912 als Pensionär der christlichen Kolonie «Liebe» in Brione kennengelernt hatte – aus «lauter Postdieben und Spitzeln, Vegetarianern und Verrückten, alten Jungfern und ethischen Professoren» schien sie sich ihm laut «Wir sind Gefangene» zusammenzusetzen –, suchte Graf damals keine Zuflucht. Bis 1938 lebte er im tschechischen Brünn, dann in New York, das trotz karger Englischkenntnisse bis zu seinem Tod mit 73 Jahren am 28. Juni 1967 sein Domizil bleiben sollte und wo eine ganze Reihe weiterer wichtiger Werke wie «Das Leben meiner Mutter» (1940), «Unruhe um einen Friedfertigen» (1947) oder «Die Flucht ins Mittelmässige» (1959) entstanden.
Wie wenig Graf seinem volkstümlichen Auftreten zum Trotz ein blasser Unterhaltungsschriftsteller gewesen ist, wurde erst nach seinem Tod, als man in seinen Büchern Zeitdokumente von kaum überbietbarer Authentizität und Zeugnisse einer niemals korrumpierten, echten Humanität zu sehen begann, allmählich erkennbar. Im Unterschied zu Thomas Mann und vielen seiner Generation hat sich Graf für Tolstoi und nicht für Nietzsche entschieden, und was Michael Guttenbrunner ihm 1966 zu «Gelächter von aussen» schrieb, ist im Grunde für sein ganzes Schaffen gültig: «Du hast nicht aus Büchern Bücher gemacht, sondern aus Fleisch und Blut und Haut und Atem.»
Bei dtv sind von Oskar Maria Graf greifbar: «Die Chronik von Flechting» (dtv 1425), «Die gezählten Jahre» (stv 1545), «Wir sind Gefangene» (dtv 1612), «Das Leben meiner Mutter» (dtv 10044), «Gelächter von aussen» (dtv 10206), «Kalendergeschichten» (dtv 11434), «Der harte Handel» (dtv 11480), «Anton Sittinger (dtv 11855), «Die Erben des Untergangs » (dtv 11880), «An manchen Tagen» (dtv 11898), «Jedermanns Geschichten» (dtv 11899), «Reise in die Sowjetunion 1934» (dtv 71012).