Alexander Xaver Gwerder 1923–1952

«Ich stehe jedem Literaturbetrieb fern, besitze keine akademische Bildung und bestreite den ‹Lebensunterhalt› mit meiner Arbeit als Angestellter im grafischen Gewerbe, bin 27 Jahre alt, verheiratet mit einer ehemaligen Sekretärin eines Rechtsanwalts, von der nichts Rühmlicheres zu sagen ist als ihre zwei gutgeratenen Kinder.» Aus dem Brief an Oda Schaefer vom 28. Mai 1950 schimmert die ganze Misere heraus, in der sich der am 11. März 1923 in Thalwil geborene Alexander Xaver Gwerder befand. Als Autor und als Maler gleicherweise begabt, empfand er sein berufliches Dasein ebenso als eine Sackgasse wie die mit 21 Jahren eingegangene Ehe. Unfähig, offen zu rebellieren, legte er die ganze Frustration und Empörung in seine Gedichte hinein – Verse, die eher durch ihre Expressivität und aufrühre rische Kraft denn durch Formvollen dung überzeugen, die aber mit der Radikalität ihres Denkens wuchtig aus der biederen Schweizer Nachkriegslyrik herausragen. Während die Gedichte, die Erwin Jaeckle ab 1949 in der «Tat» pub lizierte und die 1951 auch in einem Sammelband, «Blauer Eisenhut», erschienen, von Max Rychner und Karl Krolow gelobt wurden, wiesen die Redaktionen seine weit aggressivere Prosa zurück. Stein des Anstosses war dabei meist sein Antimilitarismus, dessen nervöse Hef tigkeit wohl in einem unbewältigten Schuldkomplex wurzelte, war er doch bis zum bitteren, als persönliches Desaster empfundenen Ende ein Bewunderer von Hitlers hybridem Machtrausch gewesen. In seiner ganzen Fülle und Tragik liess sich Gwerders Schaffen erst lange nach seinem Tod entdecken: von 1955 bis 1969, als der ArcheVerlag mehrere Bän de mit seiner Lyrik und seiner Prosa – «Maschenriss» hiess die bewegendste Sammlung – herausbrachte, und 1998, als Roger Perret in drei Bänden das Gesamt werk edierte. Im «ruinösen Alltag» der Nachkriegsrestauration, zu der er eigentlich nicht gehört – «Ich ziehe in Zukunft den Anarchistenkongress vor», heisst es 1951 in einem Brief –, findet Gwerder sich nie wirklich zurecht. 1952, als er sich, von einer hartnäckigen Gelbsucht geplagt, so gar von Erwin Jaeckle verraten sieht und die «Zürcher Woche» hämisch über seine Gedichte herfällt, fühlt er sich «in Helvetien abgesägt» und versinkt in tiefster Resignation. Von seiner mütterlichen Freundin Erica Maria Dürrenberger zur Erholung nach Reigoldswil BL eingeladen, lernt er deren 19jährige Tochter Salome kennen, in die er sich spontan verliebt. Die junge Frau, die seine Vorliebe für den todessüchtigen van Gogh teilt, soll die «Traumgefährtin» sein, an deren Seite er die endgültige Flucht aus der Bür gerlichkeit wagen will. «Ein Tag in Selba» beschreibt, wie er ihr begegnet ist und wie er mit ihr in Basel vor van Goghs Bildern steht. Die Erzählung, die seine letzte sein sollte, endet im Manuskript mit den im Druck später eliminierten Worten: «Wie das weitergeht, kann ich nicht mehr aufschreiben; es wird getan.» «Der barmherzige Hügel» von Lore Berger, die sich 1943 vom Wasserturm auf dem Bruderholz in den Tod gestürzt hat, ist in seinem Koffer, als er und Salome am 13. September 1952 in der VanGogh Stadt Arles ankommen und im «Hôtel des Bains» ein Zimmer beziehen. Tags darauf schneiden sie sich, nachdem eine Überdosis Morphium ohne Wirkung blieb, gegenseitig die Pulsadern auf. Während die junge Frau überlebt, stirbt Gwerder im Armenkrankenhaus «Hôtel de Dieu». «Ich will leben», sollen seine letzten Worte gewesen sein.

Gwerder, Alexander Xaver, *Thalwil (ZH) 11.3.1923, †Arles 14.9.1952, Typograph und Schriftsteller. Nach einer Lehre als Buchdrucker und der Absolvierung der Rekrutenschule arbeitete G. als Offset-Kopist in Zürich und war als 23jähriger bereits Familienvater mit zwei Kindern. Dennoch drückt sich in seinem literar. Schaffen, das vorwiegend aus Lyrik besteht, stärker als bei allen anderen Schweizer Zeitgenossen ein Unbehagen angesichts der gesellschaftl. Situation und des repressiven kulturellen Klimas der ersten Nachkriegsjahre aus. Diese Frustration an der Zeit, die Erfolglosigkeit als Schriftsteller, eine familiäre Krise, der Horror vor einem bevorstehenden militär. Wiederholungskurs und eine krankheitsbedingte Depression führten schliessl. dazu, dass G. in einer ausweglosen Situation Selbstmord beging. Seine Gedichte waren seit 1949 v.a. von der Zürcher Tageszeitung »Die Tat« gedruckt worden, während seine sehr viel radikaleren Prosatexte erst nach seinem Tode publiziert wurden (»Möglich, dass es gewittern wird«, hg. von H.R. Hilty, 1957). Abgesehen von zwei Privatdrucken war G. einzige Veröffentlichung zu Lebzeiten der Lyrikbd. »Blauer Eisenhut« (1951). Obwohl die Radikalität seines Denkens in der eher konventionell wirkenden, am ehesten noch an Benn gemahnenden Sprache keine wirkliche Entsprechung fand, stiess G. nach 1968 als Vorläufer der antiautoritären Jugendbewegung und als Militärgegner auf neues Interesse. Weitere Gedichte und Prosatexte wurden in Sammelausgaben wie »Dämmerklee«, »Land über Dächer«, »Maschenriss« (hg. von H.R. Hilty, 1955, 1959, 1969), »Wenn ich nur wüsste, wer immer so schreit« (hg. von G. Ammann, 1978) und »Wäldertraum« (hg. von R. Perret, 1991) zugänglich gemacht. Dreibändige Werkausgabe von Roger Perret, 1998. … Lit.: Fringeli, D.: Die Optik der Trauer, A.X.G. Wesen und Wirken, Diss., Bern 1970. (Schweizer Lexikon CH 1991)


Gwerder, Alexander Xaver, * 11. 3. 1923 Thalwil bei Zürich, † 14. 9. 1952 Arles. - Maler; Lyriker u. Erzähler.
Der Arbeitersohn besuchte die Primar- u. Sekundarschule in Wädenswil u. Rüschlikon. 1938-1942 erlernte er in Zürich den ungeliebten Beruf eines Buchdruckers, den er nach Absolvierung der Rekrutenschule 1947-1952 in Zürich als Offset-Kopist ausübte. 1944 hatte er die gleichaltrige Sekretärin Gertrud Wälti geheiratet u. war mit 23 Jahren bereits Familienvater mit zwei Kindern. Die Krise dieser Ehe, die Frustration am Beruf, die relative Erfolglosigkeit seines literar. Schaffens, die Belastung durch die gehaßte Militärdienstpflicht, die einer Gelbsucht folgende Depression u. die hoffnungslose Liebe zu einer 19jährigen Baslerin führten dazu, daß G. 1952 in der ihm durch van Gogh bedeutsamen Stadt Arles mit der jungen Frau zusammen Selbstmord verübte, wobei seine »Traumgefährtin« gerettet werden konnte.
Unfähig, offen zu rebellieren, hatte G., ein genuines Maler- u. Dichtertalent, seine ganze Frustration u. Empörung in seine Gedichte hineingelegt, Verse, die in ihrer an Benn erinnernden, teilweise auch Rilke verpflichteten Machart eher durch ihre Expressivität u. aufrührerische Kraft denn durch Formvollendung überzeugen, die aber mit der Radikalität ihres Denkens wuchtig aus der biederen Schweizer Nachkriegslyrik herausragen. G. hatte bereits als Jugendlicher Gedichte geschrieben, fand aber erst 1949, als Erwin Jaeckle in der Zürcher Zeitung »Die Tat« erste Proben abdruckte, den Weg in die Öffentlichkeit. 1951 erschien im Zürcher Magnus Verlag, sieht man von zwei im gleichen Jahr publizierten Privatdrucken ab, G.s einzige Veröffentlichung zu Lebzeiten: Blauer Eisenhut. Gedichte. (Neuaufl. Zürich 1972). G.s Prosatexte, die seine gesellschaftskrit. Haltung aggressiver als die Lyrik zum Ausdruck bringen, konnten erst postum in Auswahl erscheinen (Möglich, daß es gewittern wird. Hg. Hans Rudolf Hilty. Zürich 1957). 1969 erschien auch Maschenriß. Gespräch am Kaffeehaustisch (Zürich): eine eigenwillige, gleichzeitig rebellische u. resignative Auseinandersetzung von vier jungen Männern mit einem Alten u. einer Dame.
Für 1990 ist eine G.-Werkausgabe im Limmat Verlag Zürich angekündigt.
WEITERE WERKE: Dämmerklee. Zürich 1955. Neuaufl. 1963 (L.). - Land über Dächer. Mit einem Beitr. v. Karl Krolow. Hg. H. R. Hilty. Zürich 1959 (L.). - Wenn ich nur wüßte, wer immer so schreit. Gesänge gegen die Masse. Hg. Georges Ammann. Zürich 1978.
LITERATUR: Dieter Fringeli: Die Optik der Trauer. A. X. G. Wesen u. Wirken. Bern 1970. (Bertelsmann Literaturlexikon)