Heinrich Herm

Ein merkwürdiges Buch, das da 1926 im Berliner Grote-Verlag als Publikation eines pseudonymen Schweizer Verfassers herauskam: Dome im Feuer. Werdegang eines Europäers. Beschrieben werden die Erlebnisse eines künstlerisch begabten französischen Reedersohnes, der früh mit Deutschland in Berührung kommt, sich zu einem begeisterten Anhänger deutscher Sprache, Literatur und Musik entwickelt und konsterniert zusehen muss, wie im Ersten Weltkrieg die alten Dome, Sinnbild der gemeinsamen christlich-europäischen Kultur, dem gegenseitigen Hass zum Opfer fallen. Um Frankreich zu retten und Deutschland von der Hybris der Junker abzubringen, kämpft er, obwohl mit einer Deutschen verheiratet, in französischen Schützengräben. Mit seinen Schiffen will er dann nach Kriegsende dazu beitragen, dass die Völker Europas sich endlich friedlich verständigen lernen.
Das Buch ist nicht frei von Pathos und wirkt stellenweise wie eine etwas missglückte deutsche Übersetzung eines bemerkenswerten französischen Romans. Der Verfassername Heinrich Herrn tönt aber nicht französisch, und die Bücher, die der geheimnisvolle Schweizer in den folgenden Jahren publiziert, vermögen, wenngleich ihre Qualität unterschiedlich bleibt, den Eindruck sprachlichen Ungenügens nach und nach zu verwischen. Höchst eindrucksvoll durch ihre gekonnte, packende Darstellung des Meeres und der Seefahrt sind die beiden folgenden Bände, Dämon Meer (1927) und Moira (1932,). Nach 1933 erscheinen Herms Romane - Völkerverständigung war ja nun in Deutschland kein Thema mehr! - in der Schweiz: die etwas zu phantastische Begegnung im Urwald von 1934, die ansprechende, episch breite Schilderung der Französischen Revolution aus katholischer Sicht in Die Trikolore von 1937, der psychologische Krimi Die Mitgift von 1941. Dann, in Die Dämonen des Djemaa el Fnaa (1943) und Kapitän Hagedorns Fahrt ins Licht (1944), dominieren nochmals das Abenteuer der Weltmeere und die Faszination fremder Länder und Kulturen.
Wer war dieser Heinrich Herrn, der da in einer Zeit der geistigen Abkapselung Weltweite und Meeresluft in die Schweizer Literatur hineinbrachte? Es handelte sich um Henri Legras, einen gebürtigen Normannen aus Rouen, der sich wie der Held seines ersten Romans für die deutsche Kultur erwärmte und den Ehrgeiz hatte, auf deutsch seine Leser zu finden. Seit 1912 war er Rechts-Professor im schweizerischen Freiburg, wurde Bürger von Portalban (FR) und heiratete 1914 die deutsche Staatsbürgerin Gertrud Schlesinger, der er dann auch seinen Erstling widmete. Eigentlich hätte Herm Seemann werden wollen, musste aber einer Behinderung wegen darauf verzichten - und gestaltete seinen Traum daher immer wieder neu in seinen Büchern. Als Henri Legras-Herm 1948 mit 66 Jahren starb, war er als Autor bereits so gut wie vergessen, ja er hatte für sein letztes Buch, Als die Normandie noch ein Museum war, nicht einmal mehr einen Verlag gefunden, obwohl er selbst es für sein eigentliches literarisches Vermächtnis an seine Leser hielt.
(Literaturszene Schweiz)

Herm, Heinrich, eigtl. Henri Legras, *Rouen 28.9.1882, †Freiburg 1.11.1948, Jurist und Schriftsteller. Der in Frankreich ausgebildete Jurist wurde 1912 als Prof. für frz. bzw. röm. und schweiz. Recht nach Freiburg berufen, wo er, mit einer aus Deutschland stammenden Frau verheiratet, bis zu seinem Tode lebte. Mit dem Roman »Dome im Feuer. Werdegang eines Europäers«, einem Preisgesang auf die scheinbar in Griffnähe gerückte Einigung zw. Deutschland und Frankreich, begann er 1926 unter Pseud. eine literar. Tätigkeit, aus der eine Reihe weiterer, eine Zeitlang vielgerühmter, von einem weiten Horizont zeugender Romane wie »Begegnung im Urwald« (1934), »Die Trikolore« (1937) oder »Die Mitgift« (1941) hervorging. (Schweizer Lexikon)