Cécile Ines Loos

Cécile Ines Loos

Nun fing ich an zu schreiben. Und schrieb und schrieb wie ein Tiger aus dem Busch, um mich herauszuarbeiten aus meinen Erlebnissen.» Cécile Ines Loos war 59, als sie diese Sätze formulierte, und die Erlebnisse, auf die sie anspielte, waren in der Tat trauma-tisch gewesen. 1883 in Basel geboren, hatte sie mit zwei Jahren die Mutter und mit vier Jahren den Vater verloren und machte nach einer kurzen glücklichen Zeit bei einer Burgdorfer Pflegefamilie ab 1893 in einem Berner Waisenhaus jene bedrü- ckenden Erfahrungen, die sie sich 1939 im Roman «Der Tod und das Püppchen» von der Seele schreiben sollte. Ab 1902 arbeitete die diplomierte Kindergärtnerin als Gouvernante, sie verliess die Stelle bei britischen Adligen aber 1910 überstürzt: «Mitten aus dem sogenannten Glück reiste ich ab.» Die zehn Jahre, die folgten, waren eine einzige existenzielle Krise, die sie an den Rand des Wahnsinns trieb und in der ein anonymer Liebhaber, ein Berner Pfarrer und C. G. Jung eine Rolle gespielt haben müssen. Sicher ist nur, dass Cécile Ines Loos 1911 in Mai-land ihren Sohn Leonardo gebar und dass sie sich 1921 in Basel zurückmeldete, wo sie erst als Zimmermädchen, dann als Sekretärin arbeitete und ab 1927 als freie Schriftstellerin lebte. «Endlich wieder ein grosser Wurf!», frohlockte Hugo Marti im «Bund», als 1929 ihr Erstling «Matka Boska» erschien, in dem Cécile Ines Loos die Erlebnisse des Zeitraums 1910 bis 1921, an einen östlichen Schauplatz verpflanzt, umsetzte. Auch der Roman «Die Rätsel der Turandot», der ihre Sehnsüchte in eine vom Glück begünstigte Tänzerin projizierte, brachte ihr 1931 viel Lob ein. Das dritte Buch «Die leisen Leidenschaften» (1934) aber fand, wohl auch seines esoterischen Charakters wegen, kaum noch Echo. Als Cécile Ines Loos 1939 im Buchclub «Schweizer Bücherfreunde» mit «Der Tod und das Püppchen» ihr geglücktestes Buch vorlegte, ging der Verlag vor der Auslieferung pleite. Der Roman erreichte seine Leser erst lange nach ihrem Tod. In die Buchhandlungen gelangte dank dem Atlantis-Verlag erst wieder «Hinter dem Mond» (1942), der Roman einer Frau, die als Pfarrersgattin nach Brasilien zieht und die Demütigungen, die sie da erlebt, nur dank der Gabe, hinter der Alltagswelt, hinter dem Mond wundersame Dinge zu erblicken, übersteht. «Sie träumt noch bei lichterlohem Verstand», sagte Max Frisch damals von Cécile Ines Loos, und ohne diese Fähigkeit hätte sie wohl auch weder ihr frühes noch ihr spätes Unglück verkraftet. Bis zuletzt schreibend, brachte sie sich mit Hilfsarbeiten für Basler Bibliotheken durch, vermietete beide Zimmer ihrer Zweizimmerwoh- nung und hauste, ständig von Hunger und Erschöpfung bedroht, in einem Verschlag im Korridor. Erst als Professorengattinnen eine Sammlung für sie durchführten, fand sie noch für drei Jahre Aufnahme im Basler Bürgerspital, wo sie am 21. Januar 1959 starb. «Ich mache mir klar», hatte sie schon 1954 Elli Muschg geschrieben, «dass man auch im Jenseits nicht einfach auf Daunen ausruhen kann, sondern auch in den neuen Verhältnissen wieder die Oberhand zu gewinnen suchen muss.»

Loos, Cécile Ines

*Basel 4.2.1883, †ebd. 21.1.1959, Schriftstellerin. Früh elternlos, wuchs L. in Burgdorf und in einem Armenwaisenhaus bei Bern auf. Nach dem Kindergärtnerinnendiplom lebte sie als Privatlehrerin in der Schweiz und in England, ehe sie nach der unehel. Geburt eines Kindes 1911 in eine tiefe, nie mehr völlig überwundene Lebenskrise geriet. Erst ab 1921, als sie, als Zimmermädchen und später als Sekretärin, wieder in Basel lebte, fand sie allmähl. zu sich selbst zurück und wurde an der Reflexion über ihre Erfahrungen zur Schriftstellerin. Ihr erster Roman, in dem sie ihre Erlebnisse von 1911 bis 1921 auf einen poln.-russ. Schauplatz verpflanzte, hiess »Matka Boska« (poln. »Grosse Mutter«, 1929) und machte sie über Nacht im gesamten dt. Sprachgebiet bekannt. 1931 folgten »Die Rätsel der Turandot«, der Roman einer Tänzerin, in welcher L. wiederum überdeutl. eigene Sehnsüchte und Wünsche personifizierte. Schon ihr drittes Buch, die mehr meditativen als erzähler. »Leisen Leidenschaften« (1934), stiess damals weitgehend auf Unverständnis. In der Folge betätigte sie sich hauptsächl. als Astrologin, und erst 1938/39, nachdem sie als Übersetzerin von Monique Saint-Héliers Roman »Strohreiter« (1939) zu einer neuen, unprätentiösen Erzählweise gefunden hatte, gelang ihr mit »Der Tod und das Püppchen« (Neuausgabe 1983) wieder ein vollgültiges literar. Werk. Die Erzählung, die das Thema der verlorenen Kindheit virtuos mit dem Todesmotiv in Beziehung setzt, steht von den Figuren und Schauplätzen her in lockerer Beziehung zu »Hinter dem Mond« (Zürich 1942, 1983, Frankfurt a.M. 1990), dem Roman eines entsagungsvollen Frauenlebens. Obwohl literar. überzeugend, folgt die Jeanne-d'Arc-Adaption »Jehanne« (1946) zu sehr der als Vorlage benutzten Jeanne-d'Arc-Biographie von Anatole France (1908). Auch der letzte publizierte Roman, »Leute am See« (1951), befriedigt nur noch in einzelnen, allerdings köstl.-humorvollen Szenen. Weit Überzeugenderes schuf L. in kurzen, stimmungsvollen Feuilletons, Skizzen und Erzählungen, die u.a. sichtbar machen, mit wieviel Würde und Jovialität sie das Verkanntsein zu ertragen verstand (gesammelt in »Verzauberte Welt«. Ein C.I.L.-Lesebuch, hg. von C. Linsmayer, 1983). … Lit.: Linsmayer, C.: Nachwort zur Neuausgabe von C.I.L., »Hinter dem Mond«, 1983/90.
(Schweizer Lexikon)



Loos, Cécile Ines

* 4. 2. 1883 Basel, † 21. 1. 1959 Basel. - Erzählerin u. Romanautorin.

Die Tochter eines Organisten wuchs in Basel, bei Pflegeeltern in Burgdorf u. in einem Armenwaisenhaus in Wabern bei Bern auf. In ihrem Roman Der Tod und das Püppchen (Zürich 1939. Küsnacht 1983. Bln. 1985) schildert sie diese »unbehauste« Kindheit, die ihr ganzes Leben prägte, auf bewegende Art u. Weise. Nach der Diplomierung als Kindergärtnerin an der Neuen Mädchenschule in Bern war L. 1902 bis 1906 Erzieherin bei dem in Ohringen/Kt. Zürich im Exil lebenden Baron Job von Manteuffel, dessen liberale, unkonventionelle Denk- u. Lebensweise sie in der autobiograph. Erzählung Das Königreich Manteuffel (Erstdr. in: Letzte Reife. Zürich 1934. Wiederabdr. in: Verzauberte Welt. Küsnacht 1985) humorvoll darstellte. 1906 bis 1911 lebte sie im Anschluß an einen Parisaufenthalt als Erzieherin u. Lehrerin in Irland u. England (siehe hierzu die autobiograph. Erzählung Liebhabertheater in: Verzauberte Welt), ehe sie nach der unehel. Geburt ihres Sohnes Leonardo 1911 in Mailand in eine tiefe, nie mehr völlig überwundene Lebenskrise geriet. Während L. das Kind einer ital. Pflegefamilie überließ, lebte sie in Bern unter der Obhut eines Pfarrers, ließ sich psychiatrisch behandeln u. arbeitete als Serviertochter u. Verkäuferin. Ab 1921 wohnte sie in Basel, wo sie den Sohn im Waisenhaus unterbrachte u. eine Stelle als Zimmermädchen u. Serviertochter in einer Pension annahm. Nach einer kaufmänn. Zusatzausbildung wurde sie 1923 Sekretärin in einer Speditionsfirma. Noch immer befriedigte sie das Erreichte jedoch nicht, sie lebte, wie es 1931 in einem Aufsatz heißt, »am Rande des Zugrundegehens« u. mußte Arbeit tun, »die noch in den Dornen ist und im Kummer und den Tod bedeutet«. Bereits um 1916 will sie ihre Not einem umfangreichen, später vernichteten Roman anvertraut haben, u. auch jetzt sah sie den einzig möglichen Ausweg in der Schriftstellerei: »Nun fing ich an zu schreiben. Und schrieb und schrieb wie ein Tiger aus dem Busch, um mich herauszuarbeiten aus meinen Erlebnissen« (Biographie. Entstanden um 1942/43. In: Verzauberte Welt, S. 185). Der Erfolg bei einem literar. Wettbewerb, in welchem 1925 ihr Märchen Schivagrudel erstprämiert wurde, gab ihr Auftrieb, u. so machte sie sich daran, die schweren Erlebnisse des Zeitraums 1911-1921 an einen polnisch-russ. Schauplatz zu verpflanzen u. nur leicht verfremdet literarisch darzustellen. Der Roman Matka Boska (polnisch für »Große Mutter«) erschien 1929 bei der Deutschen Verlagsanstalt Stuttgart u. machte die Autorin über Nacht im gesamten dt. Sprachraum bekannt. 1931 ließ sie im gleichen Verlag Die Rätsel der Turandot folgen, einen Roman, in dem wiederum viel Selbsterlebtes versteckt ist, der aber in der Gestalt der vom Glück begünstigten, weltberühmten Tänzerin Turandot überdeutlich auch eigene Sehnsüchte u. Wünsche personifiziert. Schon mit ihrem dritten Buch, den von östl. Weisheit erfüllten, eher meditativen als erzählerischen Leisen Leidenschaften (Zürich 1934), hatte L., die seit 1927 unter prekären sozialen Bedingungen in Basel das Leben einer freien Schriftstellerin führte, kein Glück mehr. Die Deutsche Verlagsanstalt lehnte ab u. brachte in der Folge - ob auch polit. Gründe mitspielten, ist unklar - kein Buch der Schweizerin mehr heraus. Als der Text dann im Zürcher Rascher Verlag erschien, stieß er beim Lesepublikum, das wiederum einen expressiven, abenteuerlichen Frauenroman erwartet hatte, weitgehend auf Unverständnis. Die mystisch-reflexive Dimension, die L. sich im Umgang mit Rudolf Steiners Anthroposophie u. bei der Begegnung mit dem ind. Ingenieur Jitendranath Dey angeeignet hatte, wurde auch für den Roman Alexander Untum Bormann bestimmend, an dem sie 1935-1938 arbeitete u. der bei keinem Verleger Gnade fand. Eingeführt durch Alfred Fankhauser, betätigte sie sich seit Mitte der 30er Jahre hauptsächlich als Astrologin. Erst 1938/39, nachdem sie als Übersetzerin von Monique Saint-Héliers Roman Strohreiter (Zürich 1939) zu einer neuen Art einfacher, unprätentiöser Erzählweise gefunden hatte, gelang ihr mit Der Tod und das Püppchen wieder ein vollgültiges literar. Werk. Infolge einer Verlagsliquidation kam das Buch jedoch in den ersten Wochen des Zweiten Weltkriegs nur teilweise zur Auslieferung u. fand erst 1983, anläßlich einer Neuedition, die ihm gebührende Beachtung. Die Erzählung, die das Thema der verlorenen Kindheit virtuos mit dem Todesmotiv in Beziehung setzt, steht von den Figuren u. Schauplätzen her in lockerer Beziehung zum Roman Hinter dem Mond (Zürich 1942. 1983. Ffm. 1990), mit dem L. die Reihe ihrer späten Meisterwerke fortsetzte. Susanna, die Protagonistin dieses im Jura, in Basel u. in Brasilien spielenden Romans, besitzt schon als Kind die Gabe, hinter den Erscheinungen der Alltagswelt wundersame, märchenhafte Dinge zu erblicken. Eine Gabe, die ihr hilft, ihr freudloses Leben als Gattin eines nach Südamerika berufenen dt. Pastors mit all seinen Demütigungen durchzustehen, ohne daß ihr Innerstes dabei Schaden nimmt. Obwohl er sprachlich u. auch von der Stimmung her an die vorigen anschließt u. ihnen in manchen, v. a. die Kindheit betreffenden Stellen nicht nachsteht, krankt der folgende Roman, die Jeanne-d'Arc-Adaption Jehanne (Zürich 1946), etwas an der allzustarken Abhängigkeit von der als Vorlage benutzten Jeanne-d'Arc-Biographie von Anatole France (1908). Auch der letzte publizierte Roman, Leute am See (Zürich 1951), vermag nur noch in einzelnen, dann allerdings köstlich-humorvollen Szenen zu befriedigen. Weit Überzeugenderes schuf die alternde Dichterin in kurzen, stimmungsvollen Feuilletons, Skizzen u. Erzählungen, die sie allen mögl. Zeitungen zur Publikation anbot u. die u.a. sichtbar machen, mit wieviel Würde u. Jovialität sie das Verkanntsein u. die demütigende materielle Lebenssituation zu ertragen verstand. Im Nachlaß, den die Universitätsbibliothek Basel aufbewahrt, befinden sich noch drei bereits die Zeichen des Verfalls tragende unveröffentlichte Romane: Das Paradies oder Zauber der Höflichkeit, Der schöne Herzog u. das fragmentar. Typoskript Horizonte.

WEITERE WERKE: Konradin. Zürich 1943 (R.). - Schlafende Prinzessinnen. St. Gallen 1950 (Auszug aus: Das Paradies oder Zauber der Höflichkeit). - Verzauberte Welt. Ein Lesebuch. Hg. Charles Linsmayer. Küsnacht 1985 (enthält 45 Prosatexte, z. T. erstmals veröffentl.; mit Bibliogr.).

LITERATUR: Olga Brand: C. I. L. In: Stilles Wirken. Schweizer Dichterinnen. Zürich 1949. - Elisabeth Bartlin (eigentl. Elisabeth Meylan): C. I. L. Eine Einf. in ihre Werke. Diss. masch. Basel 1968. - Charles Linsmayer: Ich fand nirgends eine Heimat außer bei mir selbst. Leben u. Werk der Schriftstellerin C. I. L. Nachw. zur Neuausg. v. «Hinter dem Mond». Zürich 1983. Ffm. 1990.
(Bertelsmann Literaturlexikon)

Loos, Cécile Ines

(«Ich will anders von der Welt gehen, als wie ich sie angetreten habe» Leben und Werk von Cécile Ines Loos)


«Eine echte Dichterin.... und zwar eine der besten, die die Schweiz je besessen hat», nannte der Literaturprofessor Walter Muschg am 1.Februar 1959 die eben verstorbene Cécile Ines Loos in seinem Nachruf in der Basler «Nationalzeitung». Doch musste er auch gleich hinzufügen, «das schwere Leben… und das öffentliche Ansehen dieser Frau» ständen «in keinem Verhältnis zu diesem hohen Lob.»
Cécile Ines Loos ist am 4. Februar 1883 als fünftes Kind des Musikers Christian Bernhard Felician Loos (*1851) und seiner Ehefrau Sara Charlotte Loos-Stuckert (*1857) in Basel zur Welt gekommen. Ihre Mutter entstammte als Tochter des Goldschmieds Friedrich Wilhelm Stuckert (1821–1897) und seiner Frau Rosina Stuckert–Burckhardt (1825–1858) mütterlicherseits einem reichen und angesehenen Basler Geschlecht und väterlicherseits einer Familie von Pfarrherren und Missionaren, während die Eltern des Vaters, Johannes Bernhard Loos (1823–1894) und Elise Loos-Donatz (1815–1887) erst seit 1858 in Basel eingebürgert waren und in den Augen der Schriftstellerin stets etwas Abenteuerliches beibehielten. «Mein Grossvater war letzter Inhaber des berüchtigten Wirtshauses im Spessart», schrieb sie 1929 in der Liestaler Zeitschrift «Freie Stunde», «wo noch die Chronik besteht des sehr bösen Ritters Bernhard von Loos, in dessen Familie dann jenes Raubnest blieb.»
Wie weit solche Angaben der reichen dichterischen Phantasie von Cécile Ines Loos entsprangen, lässt sich letztlich nicht mit Sicherheit beantworten. Jedenfalls muss die Verbindung der Burckhardt-Tochter mit dem Organisten der Basler Französischen Kirche als Mésalliance betrachtet worden sein, und der der Irwingianer-Sekte zugehörige Friedrich Wilhelm Stuckert enterbte nach dem Tode seiner ersten Frau deren «unerwünschte» Nachkommen, indem er ihr Geld der Basler Mission für Indien vermachte. Das erste gewichtige Ereignis in einer Kette von nicht mehr abreißenden Schicksalsschlägen trat ein, als Cécile Ines Loos am 29. Mai 1885, also kurz nach ihrem zweiten Geburtstag, ihre Mutter verlor. Sie starb im Alter von 28 Jahren «an plötzlicher Schwindsucht». Auf dem Totenbett hatte sie ihr jüngstes Kind der frisch verheirateten, aber noch kinderlosen Freundin Emma Sophie Charlotte Langlois-Mollissing (*1858) aus Burgdorf anvertraut, damit es nicht, wie die vier grösseren Geschwister, ins Waisenhaus käme. Die Langlois «versprachen meiner sterbenden Mama hoch und heilig, ich werde immer ihr Kind sein.» (an Walter Muschg, 15.12.1946)
Die Kinderjahre in Burgdorf scheinen eine relativ glückliche Zeit für Cécile Ines Loos gewesen zu sein. In «Der Tod und das Püppchen» hat sie später die Atmosphäre im grossbürgerlichen Hause des Buchhändlers Alfred Eduard Langlois (1854–1907) mit feinem Einfühlungsvermögen für die kindliche Betrachtungs- und Erfahrungsweise gestaltet. Ihrer Vorliebe für alles Adlig-Vornehme gemäss macht sie in ihrem Buch den Buchhändler zu einem Herrn von Travo, der in seiner Verträumtheit und Unentschlossenheit Züge von adliger Fin de siècle-Décadance à la Hoffmannsthal aufweist. In der kränklichen Tatana porträtiert sie eine ihr stets wohlgesonnene Schwester von Alfred Langlois, Ida Langlois (1858–1947), die eine Zeitlang in Russland gewesen war und perfekt russisch sprach. Auch ein Bruder des Pflegevaters, Eugen Wilhelm Langlois, war lange in Russland gewesen. Zudem pflegten die Langlois enge Beziehungen zur Familie des schweizerischen Konsuls in Moskau, Luchsinger. Die Mitglieder dieser Familie und ihre russischen Verwandten waren häufig zu Gast in Burgdorf, und es wurde dann der Samowar hervorgeholt und ein echt russisches Fest gefeiert. So beruht also auch die Geschichte mit der russischen Puppe Olga, die in «Der Tod und das Püppchen» für das Kind Michaela Tanner zu einem Symbol des Überlebenswillens wird, auf einem realen Hintergrund.
Die Burgdorfer Idylle nahm 1893 ein abruptes Ende. 1892 war nämlich Cécile Ines Loos’ Pflegemutter Emma Sophie Charlotte Langlois an den Folgen einer Geburt gestorben, und nun wurden offenbar – genau so, wie es in «Der Tod und das Püppchen» dargestellt ist – ein harmloser Kinderstreich des aufgeweckten Mädchens sowie ein vor dem pfarrherrlichen Schulgericht behandeltes Disziplinarvergehen zum äusseren Anlass genommen, um das Kind zwecks «richtiger» Erziehung in eine fromme Anstalt zu stecken. Am 15.12.1946 sollte sie sich Walter Muschg gegenüber erinnern: «Nach acht Jahren starb Frau Langlois ebenfalls, an einem Kind; Papa Langlois heiratete zum zweiten Mal, und nach einer Woche sass ich in der Armenanstalt, mit Spitzenkleid und Pelz als sehr delikates Kind. Die zweite Mutter hatte das arrangiert.»
Am 21. August 1893, also mit etwas mehr als 10 Jahren, wurde Cécile Ines Loos als Zögling in die Waisenanstalt der Viktoria-Stiftung in Wabern bei Bern aufgenommen. Die Anstalt war eine Gründung des Burgdorfer Bankiers Jakob Rudolf Schnell (1778–1856). Er hat die Anstalt, die bis 1961 in Wabern bei Bern situiert war und sich seither in Richigen (BE) befindet, per Legat für seine früh verstorbene Gemahlin Viktoria gestiftet. Das streng protestantisch orientierte Haus scheint, wie Cécile Ines Loos nicht nur in «Der Tod und das Püppchen» dargestellt, sondern auch in Briefen immer wieder bestätigt hat, eher in einem unversöhnlich-spartanischen als in pestalozzianischem oder auch nur christlichem Geist geführt worden zu sein. An Weihnachten 1952 schrieb sie beispielsweise an E. F. Knuchel, sie sei dort «eigentlich durchaus nicht unterrichtet, sondern einfach zu Arbeitsleistungen herbeigezogen, gescholten und verprügelt» worden, «wie alle andern auch. Das nannte man christlich.» Jedenfalls wurde die Frömmigkeit den Kindern nicht zum Erlebnis, sondern zum Alptraum.
Cécile Ines Loos trat im Frühling 1899 aus der Waisenanstalt aus und ging – genaueres ist nicht zu erfahren – als «Pensionärin/Gouvernante» nach Prilly-sur-Lausanne. Im Frühling 1901 war sie wieder in Bern und begann in der «Neuen Mädchenschule» den einjährigen Kurs als Kindergärtnerin. Das konnte ihren Bildungshunger aber nicht stillen, und sie versuchte deshalb mit Hilfe des Schuldirektors die Pflegeeltern dazu zu bewegen, ihr ein Studium zu ermöglichen. Doch alle Überredungsversuche schlugen fehl. Nach der Diplomierung im Frühling 1902 musste sie selbst für ihren Lebensunterhalt aufkommen.
«Im Alter von achtzehn Jahren war ich vollkommen glücklich.» Dieser Satz findet sich in Cécile Ines Loos’ frühester unverstellt autoblographischer Schrift «Das Königreich Manteuffel», und er bezieht sich auf jene Jahre, die sie als Kindermädchen in der Familie des Barons Job von Manteuffel in Ohringen bei Winterthur verbrachte. Laut Eintragung im Gemeinderegister von Seuzach trat sie die Stelle am 16. Mal 1902 an und verliess Ohringen wieder am 2. Juli 1906. Als Beruf ist in den Büchern «Magd» eingetragen. Dass sie das Leben im Kreise dieser exzentrischen adeligen Familie, die eines Rechtsstreits wegen bis 1911 im Schweizer Exil lebte, als beglückend empfand, bestätigt Cécile Ines Loos auch mehrfach in ihren Briefen. Skeptischer scheinen dagegen die Pflegeeltern Langlois die Situation beurteilt zu haben, und sie waren es schliesslich auch, die der Sache ein Ende setzten. «Diese Leute aber machten fürstliche Schulden, und unsere Leute in B. bekamen Angst, ich könnte mir ein Beispiel nehmen und auf sie zurückfallen! Ich wurde schleunigst nach England abkommandiert.» (an Arnold Schimpf-Kull, 15. November 1927)
Exakt lässt sich dieser Englandaufenthalt nicht mehr datieren. Sicher ist nur, dass Cécile Ines Loos nach allerlei Abenteuern als Kindermädchen zu Lady Plyth of Pless, der Schwester des Königlichen Richters Sir Pinsent-Parker kam. Diese noble Umgebung entsprach den Wünschen der in ihrem Metier allerdings noch recht unsicheren Französischlehrerin offenbar bestens. «Endlich war ich nun da gelandet, wo Lords zu Hause waren wie Orchideen in den Treibhäusern», heisst es in der späten Erzählung «Liebhabertheater». «Hier war nun alles vorhanden an Parks und Tennisplätzen, Rosengärten, Bedienten, Angestellten, samt Kutscher und Groom, der mit verschränkten Armen rückwärts auf dem Dogcart saß.» Bis wann Cécile Ines Loos sich in England aufhielt, lässt sich nicht mehr genau feststellen. In der kurzen Selbstblographie von 1942 erzählt sie, das Angebot, dauernd bei den Pinsent-Parkers zu bleiben, habe sie traurig gemacht. «Irgendwie war ich zu jung für Dauerstellen. Es schien mir, dies sei alles nicht das eigentliche Leben, sondern immer nur das Leben anderer von Kindheit an. Mitten aus dem sogenannten Glück reiste ich ab.»
Auf die Zeit zwischen dem von 1902 bis zirka 1910 dauernden England-Aufenthalt und der Übersiedlung in die Vaterstadt Basel im Jahre 1921 gibt es nur ganz dürftige Hinweise. Fest steht, dass Cécile Ines Loos in diesen 10 Jahren eine schwere existenzielle Krise durchmachte, die sie zeitweise an den Rand des Wahnsinns brachte und von der sie sich nie wieder ganz erholen konnte. Die aufwühlenden Erlebnisse und Erfahrungen dieser Jahre, die ihr Denken und ihre Imaginationskraft entscheidend vertieft haben dürften, führten letztlich allerdings auch dazu, daß aus dem schriftstellerischen Dilettieren und Probieren ein Sich-ausdrücken-Müssen aus innerer Not wurde.
An gesicherten Fakten läßt sich zunächst einmal nur festhalten, daß Cécile Ines Loos in der Folge eines schockierenden, unglücklich endenden Liebesverhältnisses am 22. August 1911 in Mailand einem Kind, dem Sohn Leonard, das Leben schenkte, daß sie den Namen des Vaters ihres Kindes niemals preisgab, und daß sie Ende 1912 oder anfangs 1913, nachdem sie ihr Kind zu Pflege-Eltern des Namens Saini in Cornate d’Adda gegeben hatte, wieder in die Schweiz zurückkehrte. Am 14. November 1913 bezog sie ein Logis bei dem mit den Langlois verwandten Pfarrer Albert Schädelin an der Herrengasse 5 in Bern. Schädelin wollte die junge Frau offenbar mit Hilfe lückenhafter psychologischer Kenntnisse von ihrem Schock befreien und dazu bringen, ihr Kind zu sich zu nehmen. Die pfarrherrlichen Bekehrungs- bzw. Heilungsversuche führten jedoch ebenso wie die daran anschliessende professionelle psychoanalytische Behandlung zu keinen befriedigenden Resultaten. Wer sich Cécile Ines Loos’ Schicksal des zweifachen Mutterverlusts und der dadurch bewirkten ungewöhnlich starken Liebebedürftigkeit in Erinnerung ruft, wird begreifen können, dass sie eine ganz banale, für die bürgerliche Gesellschaft damals völlig selbstverständliche Tatsache als vernichtenden Schlag gegen ihre Existenz empfinden musste: die durch das uneheliche Kind entscheidend geminderten Chancen, einen Lebenspartner und damit Erfüllung in der Liebe zu finden!
Die Sachlage komplizierte sich noch dadurch, dass zum Problem mit dem ungewollten Kind eine weitanschaulich-politisch-religiöse Problematik hinzutrat. Cécile Ines Loos war nämlich in den Jahren vor dem Ersten Weltkrieg offenbar mit kommunistischem Gedankengut in Berührung gekommen und hatte die Idee, sie müsse die Kirche unter Berufung auf gewisse prophetische Traumgesichte dazu auffordern, etwas gegen den drohenden Krieg zu unternehmen. Gegenüber Adressaten, die zum betreffenden Zeitpunkt nichts über das uneheliche Kind erfahren durften, stellte sie später die Sache gerne so dar, als wäre diese später in «Matka Boska» eingegangene, sich auch noch in «Der Tod und das Püppchen» spiegelnde fruchtlose Friedensinitiative der alleinige Grund für ihre unerfreuliche Begegnung mit der Psychoanalyse gewesen. An Muschg beispielsweise schrieb sie am 23.11.1928: «Ich bin vor dem Krieg, trotzdem ich nicht politisch auf der Höhe bin, so unglücklich gewesen, und auch mutvoll: ich meinte, das grosse Unglück müsse abgewandt werden. Ich, wir, die Kirche müsse vorangehen und sich uns beweisen als die Macht, die wir vorstellen sollten, und das Unglück abwenden… Aber ich wurde dann sehr verlacht; es hiess, ich wollte auch eine Rolle spielen. Ich wurde zu einem Psychiater geschickt… wurde zum Geständnis gezwungen: ich habe Unrecht.» Der Konflikt zwischen Cecile Ines Loos und Pfarrer Schädelin muss Ende 1914 seinen Höhepunkt erreicht haben. Jedenfalls verliess die junge Frau damals ihr Logis bei den Pfarrersleuten und zog an die Gesellschaftsstrasse 20, wo sie, offenbar als Serviertochter, im Restaurant «Zähringerhof» arbeitete. Im Februar 1917 verliess sie Bern mit Zielrichtung Davos. Dort verliert sich ihre Spur. Wir wissen nicht, ob sie einer Krankheit wegen in der damals berühmten Tuberkulose-Höhenstation geweilt hat, oder ob sie, was wahrscheinlicher ist, in einem Sanatorium in irgendeiner Funktion (Spetterin, Serviertochter) gearbeitet hat.
Seit dem 20. Januar 1921 ist Cécile Ines Loos in ihrer Heimatstadt Basel polizeilich gemeldet. Und zur gleichen Zeit etwa bringt sie auch ihren inzwischen zehnjährigen Sohn Leonardo nach Basel – ins Waisenhaus! Sie arbeitete damals als Serviertochter in einer Pension und hatte keine Möglichkeit, ihr Kind zu sich zu nehmen. Wenn Leonardo bei ihr war, versteckte sie ihn, wie er dem Verfasser 1983 selbst erzählt hat, sobald die Brotgeberin und Hausherrin in Hörweite kam, jeweils im Kleiderschrank.
Wie lässt sich eine solche, durch äussere und innerliche Faktoren derart gestörte und beeinträchtigte Mutter-Kind-Beziehung mit Cécile Ines Loos’ literarischem Erstling «Matka Boska», diesem Hohelied der Mütterlichkeit, vereinbaren, das in den Jahren vor 1929 in Basel entstand? Doch wohl nur als ein Versuch der Rechtfertigung sich selbst und der Umwelt gegenüber, als ein Versuch, die Vernachlässigung der Mutterpflichten innerhalb einer nur unzureichend verschlüsselten literarischen Welt als etwas Schicksalsbedingtes und Unfreiwilliges darzustellen. Wahrscheinlich wollte sie sich auch aus der als demütigend empfundenen sozialen Lage herausarbeiten, zu Ansehen gelangen, den Makel des unehelichen Kindes durch imponierende geistige Leistungen vergessen machen.
Was immer ihre Motivationen gewesen sein mögen: sicher ist, dass sie, nachdem sie mit der Märchengeschichte «Schivagrudel» in einem Zeitschriftenwettbewerb 1925 einen ersten bescheidenen Erfolg erschrieben hatte, mit verbissener Zähigkeit um eine Anerkennung als Schriftstellerin und um die Möglichkeit, ganz dieser Berufung leben zu können, gerungen hat. Am 16. Juni 1925, also kurz nach dem Erfolg mit «Schivagrudel», schrieb Cécile Ines Loos, die damals als Sekretärin bei der Firma Goth arbeitete und als Mitglied des Kaufmännischen Vereins Basel die von dieser Organisation durchgeführten Damen-Leseabende übernehmen wollte, dem Präsidenten des KV, Arnold Schlimpf-Kull: «Es ist wirklich sehr freundlich von Ihnen, so Interesse für meine Anfangskünste zu haben. Ich hoffe sehr, dass ich eines Tages noch ganz damit reüssiere. Sonst müsste ich mein Leben als vergeblich bezeichnen. Denn im Grunde bedeutet für mich die Kunst mehr als alles andere auf der Welt. Und ich hatte mir als junges Mädchen einmal gesagt, ich will anders von der Welt weggehen, als wie ich sie angetreten habe.»
Der Zeitpunkt, an welchem Cécile Ines Loos ihren «Brotberuf» aufgab und die für schweizerische Verhältnisse unsichere und dornenvolle Karriere einer freien Schriftstellerin begann, lässt sich auf den Tag genau bestimmen: es ist der 1. Januar 1927. Nach dem Wettbewerbsbeitrag von 1925 hatte sie nur noch ganz wenige Texte veröffentlichen können, was sie im Briefwechsel mit Arnold Schimpf-Kull immer wieder bedauert und auf ihre starke berufliche Inanspruchnahme zurückführt. Am 8. März 1926 erwähnt sie Schimpf-Kull gegenüber erstmals einen «grösseren Roman», an welchem sie arbeite. Am 24. August des gleichen Jahres berichtet sie von «sechs bis sieben Kapiteln», die sie fertig habe. Um das Buch fertigstellen zu können, bewirbt sie sich in dieser Zeit erfolglos um Mittel des Basler Literaturkredits. Schliesslich gelingt es ihr, wie sie Schimpf-Kull am 21. November 1927 stolz mitteilt, den Roman durch die Werkbeleihungskasse des Schweizerischen Schrifstellervereins für zunächst fünf Monate mit Fr. 300.– pro Monat beleihen zu lassen. «So trete ich denn also am 1. Januar aus dem Hause Goth und in mein eigenes Geschäft ein… Sie können denken, wie ich erlöst bin. Ich wage es mir kaum noch recht zu denken.»
Der Start nahm sich erfolgversprechend aus. Mit dem Roman «Matka Boska» der im Jahre 1929 in der renommierten Deutschen Verlagsanstalt (DVA) in Stuttgart erschien, wurde Cécile Ines Loos sozusagen über Nacht im gesamten deutschen Sprachgeblet zu einer Berühmtheit. Obschon das in Polen angesiedelte, in innere und äussere phantastische Welten auswuchernde Buch nicht so recht in die Schweizer Literaturlandschaft passen wollte, fand es dennoch auch in der Heimat der Autorin vielerorts begeisterte Zustimmung. Hugo Marti z.B. schrieb am 26. Mai 1929 im «Bund »: «Endlich wieder ein grosser Wurf! Endlich, in diesen Zeiten gekonnter Kleinigkeiten, ein Werk von langem Atem und von weiten Zielen. Der Versuch, eine Welt im Wort aufzubauen; nicht ein Milieu, nicht ein Problem, nicht eine Entwicklung – nichts weniger als eine Welt mit Schuld und Sühne, mit Sündenfall und Erlösung, mit Satan, Engeln und Gott, vor allem mit der Matka Boska…»
Eine gewichtige Rolle bei der Entstehung ihres literarischen Erstlings muss der damalige Philologiestudent und spätere Gymnasiallehrer und Schriftsteller Hans Mast (1902–1964) gespielt haben, mit dem Cécile Ines Loos in den späten zwanziger Jahren befreundet war und dem sie im äusserst wohlwollend gezeichneten Musiker Belhaer in den «Rätseln der Turandot» ein Denkmal gesetzt hat. Wie ihre späteren Bücher beweisen, kann Masts Mitarbeit an ihrem ersten Roman aber kaum sehr viel mehr als die Orthographie betroffen haben. Menschlich-persönlich jedoch hinterließ die schlußendlich gescheiterte Liebesbeziehung in Cécile Ines Loos neben einem etwas gestärkten Selbstbewusstsein höchst wahrscheinlich auch ein folgenschweres Trauma. Das Verhältnis scheint nämlich die erste sich anbahnende Beziehung gewesen zu sein, in die sie auch ihren nunmehr schulentlassenen Sohn Leon-ardo als Familienmitglied einzubringen versuchte. Als es zwischen der 46-jährigen angehenden Schriftstellerin und dem 27jährigen frischgebackenen Dr. phil. I dann doch nicht zu einer dauernden Verbindung kam, muss Cécile Ines Loos fatalerweise ihren unehe-lichen Sohn als einzigen Hinderungsgrund angesehen haben.
Ohnehin hatte sich in den schweren und zermürbenden frühen Basler Jahren das Bild, das sie sich in ihrem Innern von ihrem Sohn gemacht hatte – ein genialer junger Mensch, der ihre Talente geerbt hatte, der ihr einmal Ehre machen würde und auf den sich schlimmstenfalls die so oft verschmähte Liebe, in edle Mutterliebe sublimiert, konzentrieren liesse! –, immer stärker als reines Wunschbild entpuppt. Der Knabe zeichnete sich durch nichts Außergewöhnliches aus, und mit der strengen Basler Waisenhaus-Erziehung konnte er sich nach der relativ glücklichen ersten Kindheit bei seinen italienischen Pflegeeltern verständlicherweise nur schwer abfinden. An den Sonntagen mit der sorgengeplagten Mutter, die sich seiner schämen zu müssen glaubte, gelang es ihm zudem wohl kaum, das erwünschte sonnige Wunderkind zu mimen...
Ob das Motiv von den vertauschten Kindern, das sich ja schon im Alten Testament vorfindet, erst in den späten dreissiger Jahren oder bereits früher eine Rolle in Cécile Ines Loos’ Beziehung zu ihrem Sohn zu spielen begann, läßt sich nicht mit Sicherheit entscheiden. In der Korrespondenz jedenfalls taucht es erst 1954 erstmals auf, und literarisch gestaltet hat es die Dichterin selbst seltsamerweise nie. Vermutlich hielt sie es für glaubwürdiger, wenn nicht sie selbst, sondern ihre mütterliche Freundin und Förderin, die damals in der Schweiz sehr viel berühmtere Lisa Wenger, die Sache literarisch gestaltete und an die Öffentlichkeit brachte. Die Detallkenntnis, durch welche sich Lisa Wengers 1938 erschienene Schlüsselerzählung «Was habe ich mit Dir zu schaffen?» auszeichnet, ist jedoch derart verblüffend, dass eine weitestgehende Zusammenarbeit der beiden Autorinnen bei der Abfassung und Redigierung des Textes zwingend angenommen werden muss. Die Geschichte handelt von einer ledigen Mutter namens Sibyl Fleury, die sich nach einer unglücklichen Kindheit im Waisenhaus von einem gewissen Pierre-René ein Kind zeugen lässt und es nach der Geburt zu einer dörflichen Amme in Cernieux (Cornate!) in Pflege gibt. Jahre später, als Cäsar bei ihr lebt und keinerlei geniale Eigenschaften offenbart, sondern «stumpf und plump» ist, fährt Sibyls Liebhaber Gregor Sorma heimlich nach Cernieux und findet heraus, dass Sibyls Sohn in Wirklichkeit Ignace, der Sohn der Pflegemutter ist, den man der Ahnungslosen untergeschoben hat, während ihr wirklicher Sohn starb. «Cäsar ist nicht mein Sohn ... Gott, ich danke Dir», jubelt Sibyl, «ich kann die werden, die ich war.» Freudig und erlöst fährt Cäsar am Schluss zu seinen wahren Eltern zurück.
Die absolute Lieblosigkeit und Taktlosigkeit, die mit der nur sehr wenig verschlüsselten Geschichte, in welcher Wahres und Erfundenes geschickt zu einem scheinbar schlüssigen Ganzen zusammengewoben ist, dem in Basel lebenden, inzwischen 27-jährigen Sohn der Dichterin von der hohen Warte des Literarischen her angetan wurde, stellt zusammen mit den Aktivitäten, die Cécile Ines Loos in ihren späten Jahren in eigener Regie gegen ihren Sohn unternommen hat (es gab Versuche, ihm das Bürgerrecht, das Recht zum Tragen seines Namens, das Erbrecht usw. streitig zu machen), alles in den Schatten, was sie selbst in ihrer Kindheit an Leid und Ungerechtigkeit erfahren musste. Und es ist beinahe ein Wunder zu nennen, dass Leonardo Loos, der übrigens in Wirklichkeit als Zeichner und Maler durchaus über unverkennbare künstlerische Fähigkeiten verfügte, all dies unbeschadet überstand.
Gleichzeitig mit ihrer Beziehung zu Hans Mast, der sich zeitweise in Rom aufhielt, erlebte die Dichterin im Jahre 1927 eine nur ganz kurz dauernde Bekanntschaft und Seelenfreundschaft mit dem indischen Ingenieur Dr. Jitendranath Dey. Es war dies ein Kontakt, der sich offensichtlich segensreich auf Cécile Ines Loos auswirkte, gelang es dem mit den Lehren des Buddhismus gut vertrauten Mann doch, die verzweifelt um die Anknüpfung einer ehelichen Partnerschaft bemühte Schweizerin mit Hilfe östlicher Lebensweisheit, insbesondere durch die Lehre des Karma, zu trösten und zu beruhigen. Der tröstliche Aspekt, mit dem ausser «Matka Boska» alle Werke der Dichterin schliessen, jener Appell an das Überzeitliche, Ewige, dem alles irdische Glück und Unglück untergeordnet ist – das alles hat wohl seine Wurzeln in der kurzen Begegnung mit Dey, von dem wir nicht mehr wissen, als dass er Ende 1927 Europa für immer verliess. Als dichterische Figur jedoch ist er in Cécile Ines Loos’ Werke eingegangen. Als indischer Gelehrter Ayas im zyklischen Kurzroman «Die leisen Leidenschaften. Ein Lied der Freundschaft» von 1934 und als javanischer Tempeltänzer Deben Debendah, mit dem die Titelfigur sowohl im Tanze als auch in der körperlichen Liebe Erfüllung findet, in «Die Rätsel der Turandot» von 1931.
Nach Erscheinen dieses Romans, der den Erfolg von «Matka Boska» zwar nicht erreichte, aber allgemein als ebenbürtiger Talentbewels aufgefasst wurde, stand Cécile Ines Loos auf dem Höhepunkt ihrer schriftstellerischen Karriere. Sie war nun 48 Jahre alt, hatte sich aus eigener Kraft zu einiger Berühmtheit hochgearbeitet und genoss den Ruhm in vollen Zügen. Sie klebte alle Besprechungen ihrer Bücher in ein grosses Heft ein, liess sich gerne zu Lesungen aus eigenen Werken bitten und nahm Kontakte zu vielen anderen Schriftstellern auf. Seit dem 19. Dezember 1929 war sie auch offiziell Mitglied des Schweizerischen Schriftstellervereins, und in der Folge gelangte sie mit vielerlei Anliegen an das SSV-Sekretariat in Zürich. 1932 ging es ihr offenbar auch materiell so gut, daß sie an einer Mittelmeerkreuzfahrt teilnehmen konnte, die sie von Brindisi aus nach Palästina, Ägypten und Griechenland führte. Es finden sich im Nachlass der Dichterin eine ganze Reihe von unveröffentlichten Manuskripten, die bezeugen, daß sie sich im Anschluss an diese Reise mit Plänen für eine literarische Verwertung ihrer Erlebnisse trug. Aber hier, bei der Gestaltung der antiken Welt und deren Hinterlassenschaften, fehlte ihr nun ganz einfach der bildungsmässige Hintergrund, mit dem dieser Thematik beizukommen gewesen wäre. Sie muss dies selber gespürt haben, wandte sie sich doch im Anschluss an die Kreuzfahrt der im nahegelegenen Dornach domizillerten Anthroposophie Rudolf Steiners zu, von welcher sie sich eine schnelle Einführung in die antike Bildungswelt erhoffte – mit wenig befriedigendem Erfolg, wie sich bald zeigte. «Ähnlich wie mit der Musik ging es mir mit der Anthroposophie», schrieb sie am 1.1.1953 Otto Kleiber, «wiewohl ich von selber verlangte, darin geschult zu werden, nachdem ich seinerzeit von Griechenland – Elysium – zurückkehrte, konnte ich keinen rechten Fuss darin fassen. Ich konnte die Bilder nicht verstehen und nicht malen, die sie malen, und nicht in diesen Gedankengängen leben, wiewohl mir immer wieder Einzelnes sehr gut gefiel.» Dieser Skepsis zum Trotz scheinen aber die Erfahrungen, die sie in der Schule des von ihr über alles verehrten Anthroposophen Albert Steffen machte, sie in bereits früher sichtbar gewordenen Intentionen, auch als Malerin und bildende Künstlerin zu reüssieren, bestärkt zu haben. In den Briefen der späten dreissiger Jahre spricht sie immer wieder von ihrem Atelier, in das sie Besucher führt, um ihnen ihre Bilder zu zeigen. Nach eigenen Angaben lehnte 1936 offenbar der Zürcher Verlag Orell Füssli die Veröffentlichung eines Bildbandes mit östlich inspirierten Traumbildern ab, und noch eines ihrer letzten Manuskripte, «Das Paradies oder Zauber der Höflichkeit», stattete sie selbst mit 14 visionären Illustrationen aus. Ihren Briefen legte sie als Geschenke gerne bunte, geklebte Scherenschnitte bei, welche sogenannte «Mandalas» darstellten.
Die Zuwendung zur bildenden Kunst brachte Cécile Ines Loos keinen Erfolg. Sie brachte ihr aber sehr wahrscheinlich die Bekanntschaft mit dem Maler Coghuf (Ernst Stocker, 1905–1976), der seit 1934 im Jura wohnte, wo ihn Cécile Ines Loos öfters in den Ferien besucht haben soll. Vielleicht erwachten in ihr in dieser Gegend und in Gesprächen mit dem Maler, der die Jura-Landschaft wie kein zweiter als Anregung und Thema für seine Malerei empfand, Erinnerungen an die früheste Kindheit, in welcher der Jura eine nicht unbedeutende Rolle spielte. Das neue Interesse an der Kindheit und an der Jura-Landschaft wurde wohl weiter verstärkt durch die Beschäftigung mit Monique Saint-Héliers im Jura spielender Famillengeschichte «Le cavalier de Paille», die Cécile Ines Loos in jenen Jahren für den Zürcher Morgarten-Verlag unter dem Titel «Strohreiter» ins Deutsche übertrug. Jedenfalls führte der Weg aus der Schaffenskrise, in die sie nach Vollendung der «Rätsel der Turandot» verfallen war, über die beiden Bücher «Der Tod und das Püppchen» und «Hinter dem Mond», über zwei Romane also, in denen sie die Welt ihrer Kindheit und die Geschichte ihrer eng mit dem Jura verbundenen Familie dichterisch dargestellt hat.
Mit dem Roman «Der Tod und das Püppchen» ist Cécile Ines Loos ohne Zweifel ein echtes Meisterwerk gelungen, und das Schicksal, das diesem Buch beschert war, steht in keinem Verhältnis zu seinem literarischen Rang. Der Verlag der «Schweizer Bücherfreunde Zürich», der das Buch im Winter 1939 herausbrachte, war eine halb öffentliche, halb vereinsmässig betriebene Organisation, welcher der Buchhandel skeptisch gegenüberstand. «Habe sowieso durch die Bücherfreunde an Kredit verloren, weil niemand diese Bücher von diesem Verlag ausstellen wollte», beklagte Cécile Ines Loos sich am 12. Dezember 1940 in einem Brief an Armin Egli. Es war Walter Muschg, welcher der Dichterin diese Publikationsmöglichkeit verschafft hatte. 1941/42 aber, als sie erkennen musste, dass ihr Buch praktisch gar nie im Buchhandel erhältlich gewesen war, war Muschg längst enttäuscht aus dem Vorstand des Vereins zurückgetreten und fand sich überhaupt niemand mehr, der für die Konkurs gegangene Firma Verantwortung tragen wollte. Nach fast endlosem Hin und Her, während dessen sich der SSV nach besten Kräften für die schmählich betrogene Schriftstellerin wehrte, wurden Cécile Ines Loos 1949 1540 ungebundene Exemplare von «Der Tod und das Püppchen» zum Kauf angeboten, aber weder Atlantis noch die Büchergilde Gutenberg zeigten Interesse. So wurde das Buch, wie Cécile Ines Loos auf Umwegen und nur durch Zufall erfuhr, 1952 im Rahmen einer Occasions-Aktion in den Läden der Migros-Lebensmittelkette verramscht.
Obwohl fast alle Protagonisten und die meisten Ereignisse realen Vorbildern und tatsächlichen Geschehnissen nachgezeichnet sind, wird man dem Roman keineswegs gerecht, wenn man ihn auf eine blosse dokumentarische Chronik reduziert. Was die Dichterin aus dem Stoff ihrer Kindheitserinnerungen gestaltet hat, ist nämlich weit entfernt von einem vordergründigen Realismus und beweist augenfällig ihr ausserordentliches Talent im Umgang mit Bildern, Zitaten, Symbolen und weitgespannten motivischen Verflechtungen. So symbolisiert, um nur das bedeutsamste Sinnbild herauszugreifen, z. B. die Puppe Olga, die das kleine Mädchen ganz konkret als Weggefährtin durch seine Kindheit begleitet, gleichzeitig die rnärchenhaft-phantasievolle Welt ihrer russischen Herkunft, eine der Verständnislosigkeit der Erwachsenen entgegengesetzte kindlich-verspielte Existenzform, ein gewisses Gefühl von Geborgenheit und etwas Namenloses, Transzendentales, das in jenem Moment, als ihm das Beten verboten wird, für das Kind sogar einen Augenblick lang «Gott» heisst. Für die übrigen Anstaltskinder aber verkörpert sich im gleichen harmlosen Spielzeug eine sehnsüchtig herbeigewünschte bessere, reichere und liebevollere Welt. Und dann ist für sie das Mädchen auch noch der Talisman, der es in seinem zunächst heimlichen und dann immer offeneren Aufbegehren gegen die Repression bestärkt. Dieser kunstvollen, aber absolut unaufdringlichen Symbolisierungs- und Kompositionstechnik entspricht andererseits eine Sprache, für die das Wort realistisch schon fast wieder eine Untertreibung bedeutet, gelingt es Céile Ines Loos doch in ungewöhnlich einfühlsamer Weise, jede Figur so sprechen und denken zu lassen, wie es ihr angemessen ist: die Magd Anna naiv und holprig und doch treuherzig gerade, Tatana vornehm und kompliziert, aber nicht ohne Wärme, Amelie Küpfer dagegen gespreizt und mit falschen Tönen, das Kind Michaela wiederum natürlich und stark bildhaft, assoziativ, einfach und arglos phantasievoll.
Am bedeutsamsten von allen in «Der Tod und das Püppchen» behandelten und variierten Themen ist dasjenige der Kindheit als einer beglückenden Erfahrung, die das ganze Leben eines Menschen bis zum Tode massgeblich beeinflusst. Diese optimistische Variante einer in der modernen Psychologie geläufigen Ansicht prägt und beherrscht das ganze Buch und führt letztlich dazu, dass «Der Tod und das Püppchen» trotz der erschütternden Anstaltsbeschreibung und trotz des engen Bezugs zum Tode als ein eher heiter gestimmtes, wenn auch nicht überschwänglich frohes Buch gelten kann. Kindheit ist ein Glückszustand, ein Höhepunkt des Lebens; Kinder sind dem Göttlichen, dem Heiligen und dem Paradiesischen von allen Menschen noch am nächsten.
Im Roman «Hinter dem Mond», der als nächstes Werk der Dichterin 1942 im Atlantis-Verlag herauskam, vermochte Cécile Ines Loos ihre neu gewonnene «leise» Erzählkunst noch weiter zu verdichten und in eine an die früheren Romane erinnernde grössere, weitere Dimension von Handlung und Spielraum einzubringen. Der Roman entstand im Frühling und Sommer des Jahres 1940 und sollte zunächst nach einem Begriff aus der Astrologie «Das fallende Haus» heissen. Die Autorin hatte grosse Mühe, auch nur eine Zeitung für einen Abdruck, geschweige denn einen Verlag für eine Buchveröffentlichung zu finden. Nach vielen vergeblichen Versuchen reichte sie den Roman im Herbst 1941 beim Zürcher Atlantis-Verlag ein. Dort erschien er dann unter dem endgültigen Titel «Hinter dem Mond» auf Weihnachten 1942.
Obwohl die Autorin sich selbst – d. h. ihr aus «Der Tod und das Püppchen» bereits bekanntes Alter ego Michaela Tanner – zweimal (in der Kindheit und beim Besuch Susannas bei ihrer Schwester) direkt in die Handlung einbezieht, ist «Hinter dem Mond», als Ganzes gesehen, nur am Rande autobiographisch. Dadurch jedoch, dass sie die Protagonistin Susanna ihrer Schwester nachzeichnet und damit ein Stück ihrer verlorenen Familiengeschichte wiederbelebt, kommt dennoch eine sehr persönliche, engagierte Note in den Roman hinein. Der Umstand, daß sie sich wie in «Der Tod und das Püppchen» ziemlich genau und relativ unverstellt an tatsächlich nachweisbare Fakten hält, ermöglicht ihr wiederum wie in jenem Werk einen lockeren, chronikmässigen, ungezwungenen Erzählstil, der innere Bewegung hinter äusserlich unscheinbaren Beobachtungen und vermeintlich harmlosem Geplauder zu verstecken vermag und die eigentliche Handlung in die Seele der Protagonistin und Ich-Erzählerin verlegt.
Auf die drei weiteren, nach 1942 entstandenen Romane von Cécile Ines Loos können wir nur noch kurz eingehen. «Konradin»(1943), ein Roman, der zunächst hätte «Der mittlere Weg» heissen sollen, verdankt seine Entstehung ganz offensichtlich dem Bemühen der Dichterin, in der Literaturszene der deutschen Schweiz endlich besser Fuss zu fassen und einen Beitrag an die geistige Landesverteidigung zu liefern. Als Stoff dienten ihr wie in «Hinter dem Mond» wiederum Berichte aus der näheren Bekanntschaft und Verwandtschaft. Nach der Russischen Revolution waren die Familien Faesy und Luchsinger, die ja in «Der Tod und das Püppchen» bereits für das russische Milieu gesorgt hatten, endgültig in die Schweiz zurückgekehrt und hatten sich in Bern in einer Art Familienpension niedergelassen, wo auch Cécile Ines Loos in den zwanziger und dreissiger Jahren häufig zu Gast war. Dort liess sie sich die Geschichte der russischen Auswanderung und der Rückkehr und Wiederintegration in die Schweiz erzählen, wie sie das dann in ihrem Buche, ohne viel hinzuzugeben, aber auch ohne starke Betroffenheit, dargestellt hat. Der Einsatz, den das Eidgenössische Departement des Innern zwischen 1946 und 1949 für die Dichterin leistete, könnte zum Teil gut auf diesen Roman, der im übrigen künstlerisch wenig überzeugt, zurückgehen.
Mit dem Roman «Jehanne» von 1946 präsentierte Cécile Ines Loos ein Schlüsselwerk für die von ihr immer wieder beschworene andere, undogmatische Religiosität. Sie wollte das Werk zudem bewusst als eine Art Sühne für die Toten und Beleidigten des Zweiten Weltkriegs verstanden wissen und führte das Projekt auch auf eine direkt durch den Krieg in ihr ausgelöste Vision zurück. Eindringlich ist der Roman vor allem da, wo die Autorin die in die Jura-Landschaft transponierte Kindheit ihrer Heldin Jeanne d’Arc schildert, und da, wo sie an deren Beispiel ihr eigenes überstarkes Todesbewusstsein bildhaft-metaphysisch zur Gestaltung bringt. Das letzte veröffentlichte Werk von Cécile Ines Loos, «Leute am See», entstand bereits 1943, wurde aber erst 1951, nachdem man die Dichterin zu einer Abänderung des dritten Teils hatte bewegen können, von der Büchergilde Gutenberg in Zürich herausgebracht. Von der Komplexität der Handlung und von der Figurenkonstella-tion her knüpft das Buch noch einmal an «Matka Boska» und «Die Rätsel der Turandot» an, vermag aber als Ganzes nicht mehr recht zu überzeugen. In einzelnen Szenen jedoch gelingt Cécile Ines Loos noch einmal Beachtliches: die satirische Zeichnung schweizerischen Kleinbürgertums im ersten Teil etwa, oder die auf jenseitiges ausgerichtete Traumwelt des zweiten Teiles, die übrigens im nicht mehr veröffentlichten Roman «Das Paradies oder Zauber der Höflichkeit» eine vertiefende Erweiterung findet.
Das Schicksal, als Autor auf das zahlenmässig kleine und erst noch einseitig konservativ eingestellte Deutschschweizer Lesepublikum reduziert zu sein, teilte Cécile Ines Loos seit 1939 mit den meisten anderen Schriftstellern der alemannischen Schweiz: mit Albin Zollinger, Felix Moeschlin, R. J.Humm, Otto Wirz, Cécile Lauber und vielen anderen. Was sie von diesen Autoren unterschied, war der unschweizerische Charakter jener Werke, die sie berühmt gemacht hatten, und die Tatsache, dass sie als alleinstehende Frau ohne Vermögen oder andere Einkünfte dringend auf den Erlös ihrer schriftstellerischen Arbeit angewiesen war. Wiewohl die Honorierungspraxis der Schweizer Verlage kaum viel anders aussah als gegenüber den übrigen Schriftstellern, waren ihre Auswirkungen im Falle von Cécile Ines Loos daher besonders fatal. Nachdem der Autorenantell bei der DVA 16% betragen hatte, erreichte Cécile Ines Loos nur für ein einziges ihrer in der Schweiz gedruckten Bücher noch über 10% Beteiligung: bei der im Zürcher Rascher-Verlag 1944 erschienenen Zweitausgabe des Erstlings «Matka Boska». Zählt man alle Honorare, die sie für die insgesamt sieben in der Schweiz gedruckten Werke erhielt, so kommt man auf geschätzte Fr. 6000.–, was für die zwanzig Jahre zwischen 1932 und 1952, in denen diese Werke publiziert wurden, pro Jahr einen Betrag von Fr. 300.– ergibt.
Was sich hinter diesen Zahlen verbirgt, ist ein erschütterndes persönliches Drama. Zwischen 1939 und 1954 kämpfte die Schriftstellerin, obgleich sie in dieser Zeit mit «Der Tod und das Püppchen», «Hinter dem Mond» und «Jehanne» ihre reifsten Meisterwerke vorlegen konnte, buchstäblich um ihr nacktes Überleben. Nach Auskunft von Leonardo Loos wurde sie zuletzt schliesslich unterernährt vorgefunden und musste in Spitalpflege verbracht werden. Betteln lag ihr nicht, und Schuldenmachen erst recht nicht. «Als die über 70-jährige Frau zusammenbrach, da hatte sie Fr. 32.– Schulden, nicht mehr, und vorbildlich aufgeräumte Schubladen», teilte Elli Muschg dem Verfasser am 9.1.1983 mit. Zwar gelang es dem Schriftstellerverein, dessen Sekretären Egli und Beidler Cécile Ines Loos zu Recht ihr ganzes Vertrauen schenkte, immer wieder, vom Staat Unterstützungsbeiträge für die Dichterin zu erlangen, zwar bedachte sie der Basler Literaturkredit im Rahmen seiner Möglichkeiten, und auch der Schriftstellerverein selbst half dann und wann, wenn die Not gerade am grössten war, mit kleineren Beträgen aus, aber dennoch schaffte sie es immer nur für ganz kurze Zeit, zu Einnahmen in Höhe des absoluten Existenzminimums zu gelangen.
Dass sie sich um öffentliche Unterstützung für ihre von Verlagsseite her grotesk unterbezahlte schriftstellerische Arbeit bewarb, bedeutet nicht, dass Cécile Ines Loos etwa arbeitsscheu war oder sich exklusiv darauf versteift hätte, auf Kosten der Allgemeinheit Dichterin zu sein. Sie bemühte sich im Gegenteil immerfort darum, ihren Lebensunterhalt mit Halbtagsstellen zu erwirtschaften – nur zum Allerletzten, nämlich wie so viele andere Schweizer Schriftsteller das Schreiben völlig zu Gunsten des existensichernden Brotberufes aufzugeben, dazu fand sie sich nicht bereit. Sie arbeitete so in den vierziger Jahren vorübergehend als Übersetzerin für den Zürcher Rascher-Verlag. Basis ihrer armseligen materiellen Existenz waren aber jene Halbtagsstellen , die das Basler Erziehungsdepartement in verschiedenen staatlichen Bildungsinstituten für die Dichterin schuf. An diesen Arbeitsplätzen wurde die äusserst kultivierte, für praktische Arbeiten aber vielleicht etwas ungeschickte Frau zum Nachteil ihrer schriftstellerischen Projekte mit anspruchslosen Hilfsarbeiten beschäftigt, wobei sie, wie ihre späten Briefe unzweideutig zeigen, häufig schikaniert, ausgelacht und gedemütigt wurde. Bis Oktober 1943 war sie Aufsicht in der Kinderlesestube der Basler Bibliothek (Gehalt: Fr. 145.– pro Monat). Dann lebte sie einige Zeit von der Unterstützung, die ihr vom Staat für das Projekt «Leute am See» gewährt wurde. Anfangs 1945 kam es zu einer schweren gesundheitlichen Krise, sie musste in Spitalbehandlung und war schliesslich genötigt, Armenunterstützung zu beziehen. Ab Januar 1947 arbeitete sie für Fr. 178.– im Monat halbtags als Hilfskraft im Basler Staatsarchiv. 1948 bekam sie am gleichen Ort Fr. 250.– im Monat. 1950 finden wir sie am Staatswissenschaftlichen Seminar, wo sie neue Kartothekenkärtchen zu erstellen hat, 1951 ist sie, immer noch für Fr. 250.–, mit ähnlichen Hilfsarbeiten am Paläontologischen Institut und zuletzt noch an der Universitätsbibliothek beschäftigt. Diese letzte Stelle kündigte man ihr am 1. Dezember 1951 auf Ende Jahr. Franz Beidler teilt sie am 12. März 1952 mit: «An Basel hat man mir auf Weihnachten an der Universitätsbibliothek, wo ich mit anderen gearbeitet habe, gekündigt. Sie brauchen das Geld anderweits… Ich weiss auch nicht, wie lange es noch weitergeht und wohin ich dann gegebenenfalls ziehen müsste, wenn das letzte Spargeld – ca. Fr. 600.– – aufgebraucht ist.» Am 1.4.1952 äussert sie dem gleichen Adressaten gegenüber: «...nun aber kann ich auch nicht plötzlich aufhören zu leben, auch wenn ich nichts anderes verdiene als die Fr. 62.– Alterskasse.»
Am 16. August 1952 sind in Cécile Ines Loos’ Briefen erstmals deutliche Zeichen von Erschöpfung und Resignation erkennbar. An Elli Muschg schrieb sie an diesem Tag: «Ich mag gar nichts in die Hand nehmen, ich bin wirklich zu sehr ermüdet und würde viel lieber in einen Spital gehen und nichts mehr wissen.» In den folgenden Wochen und Monaten wird ihre Lage immer aussichtsloser. Die Dichterin ist erneut gezwungen, Armenunterstützung anzunehmen, die Verlage, denen sie noch immer ihre Manuskripte herumschickt, wollen davon nichts mehr wissen. Und schliesslich helfen auch die erfinderischsten Durchhaltevorkehrungen – laut Elli Muschg vermietete sie zwei Zimmer ihrer Zweieinhalbzimmerwohnung weiter und lebte selbst in einem Verschlag im Korridor – nichts mehr.
Im Frühjahr 1954 geriet die 71-jährige körperlich und psychisch in eine schwere Krise, die einem völligen Zusammenbruch gleichkam. Am 16. Mal des gleichen Jahres schrieb sie, notdürftig wiederhergestellt, an Bundesrat Etters Sekretär Melliger, der mmer wieder Verständnis für sie gezeigt hatte: «Ich war plötzlich sehr krank und dann noch falsch behandelt worden, medizinisch… Ich hatte eine Zeitlang keine Beziehung mehr zu nichts – als noch zu Frau Prof. Muschg, die ich beide schon über 20 Jahre kenne. Die letzten Jahre waren für mein Alter etwas zu schwer gewesen…»
Noch immer schreibt sie an neuen Büchern. Am 5. Januar 1956 berichtet sie Franz Beidler von ihrem neuen Manuskript «Horizonte» und erklärt: «Vorderhand schreibe ich weiter an diesem Roman.» Der letzte Brief an Elli Muschg, zwei Tage später geschrieben, endet mit den Worten «Wo steht mein Kopf ? – Ich weiss es oft selber nicht… Ihre arme Cécile.»
Im Oktober 1956 muss Cécile Ines Loos ihrer Arthritis wegen ins Bürgerspital eingeliefert werden. Von dort schreibt sie am 22. Oktober ihren letzten von so vielen Briefen an Franz Beidler, der ihr einen Blumengruss geschickt hatte. Der Brief, mit zittriger Hand geschrieben, endet mit den Worten: «Wir müssen sehen, wie wir alle miteinander auskommen.» Dann wurde es still um die Dichterin. Ihre drei letzten Lebensjahre verbrachte sie im Altersasyl des Basler Bürgerspitals, wo ihr der Aufenthalt durch eine Aktion von Basler Professorengattinnen ermöglicht wurde, von denen jede 5 Franken pro Monat zahlte. Bei einem unglücklichen Sturz anfangs 1959 erlitt sie eine Oberschenkelfraktur, an deren Folgen sie am 21. Januar, vierzehn Tage vor ihrem 76. Geburtstag, starb. Im Tode noch holte die Armut sie wieder ein: Die Armenpflege beschlag-nahmte sogleich nach Bekanntwerden des Ablebens die Bibliothek der Dichterin und verkaufte die Bücher, um ihre Ausgaben wieder einzubringen…
(Deutsche Fassung des in der italienischen Ausgabe von «Der Tod und das Püppchen» enthaltenen Nachworts)