Jörg Steiner (1930-2013)

Eisenhower war Präsident der USA, René Coty regierte Frankreich, Adenauer die BRD, als der 26-jährige Bieler Lehrer Jörg Steiner Verse von einer «Lilofee» publizierte, die in blaue Seide gekleidet durch die Nacht geht und das Fruchtfleisch des grünen Mondes von Vermont zwischen den Lippen spürt. 1956 war kein gutes Jahr für ein Debüt, und so dauerte es Jahre, bis man das Besondere an diesem Autor erkannte, der dem Leser Freiheiten wie kein anderer lässt. «Ich bin der Schriftsteller, der nie sagt, wie es gewesen ist, sondern nur, wie es gewesen sein könnte», gab er 2000 zu Protokoll, und wer die Bieler Trilogie «Weissenbach und die anderen» (1994), «Der Kollege» (1996) und «Wer tanzt schon zu Musik von Schostakowitsch» (2000) kennt, weiss längst, dass für diesen Autor «die Wahrheit eine Geschichte ist, jeden Tag eine andere». Steiner ist nicht von der Sprache, sondern vom Jazz her gekommen. Von einer Musik, der in den fünfziger Jahren noch etwas Rebellisches anhaftete. Aber obwohl seinem Schreiben in den Romanen «Strafarbeit» (1962), «Ein Messer für den ehrlichen Finder» (1966) und «Das Netz zerreissen» (1982) – die alle drei seine Arbeit als Lehrer in einem Schwererziehbaren-Heim spiegeln – bis hin zur berührenden Darstellung der Arbeitslosigkeit in «Der Kollege» (1996) immer etwas sozial Engagiertes anhaftet, interessierte ihn am Jazz, aber auch am Schreiben, nicht das Rebellische, sondern «das Emanzipatorische»: «Etwas, das befreit oder andere, neue Möglichkeiten eröffnet.» Wobei eines der wichtigsten Mittel dieser Befreiung Steiners ebenso skurrile wie intelligente Fantasie ist. Ein Faszinosum, das sich von den frühen poetischen Versuchen über die mit dem Zeichner Jörg Müller produzierten Kinderbücher – etwa «Die Kanincheninsel» (1977) oder «Die neuen Stadtmusikanten» (1989) – bis hin zum «Kollegen» verfolgen lässt, wo der Satz «Der Osterhase kriecht bestimmt aus der Erde» die geheime Losung zwischen dem Bieler Flaneur Greif und seinem imaginären Kollegen ist. Steiner lässt zwischen seinen Publikationen jeweils bis zu fünf Jahre verstreichen: eine Bedächtigkeit in Sachen Produktion, die vermuten lässt, dass die fast schwerelose Leichtigkeit, die seine Texte immer wieder zum Ereignis macht, nicht die Folge spontaner Improvisation, sondern das Resultat eines intensiven Ringens ist. Was ganz offenbar auch bei jener noch namenlosen Erzählung der Fall ist, an der Steiner zurzeit arbeitet. Sie handelt von einer Freundesgruppe, die auf Sizilien ein Haus mietet und dort auf eine unerwartete Feindseligkeit der Bewohner stösst. Steiner ist bei aller gesellschaftlichen Brisanz seiner Texte in einem vordergründigen Sinn nach wie vor kein politisch Engagierter. «Ich schreibe einfach Bücher», sagt er, «und es muss gelingen, das, was wichtig ist, wie beiläufig oder überhaupt nicht zu sagen und auszusparen.» Wie wunderbar ihm dies jedes Mal wieder gelingt, erkennt, wer an irgendeiner Stelle die Bieler Flaneur-Trilogie oder deren amerikanischen Ableger, «Ein Kirschbaum am Pazifischen Ozean» (2008), aufschlägt. Da ist Satz für Satz der Beleg dafür zu finden, dass man, um eine ganz einfach und wie selbstverständlich daherkommende, in jeder Wendung wunderbar geglückte, hintergründige und inspirierte Schweizer Prosa zu lesen, keineswegs zu Robert Walser zurückzublättern braucht.



Jörg Steiner

(Porträt zum 70 Geburtstag)
An der Frankfurter Buchmesse 2000 gehörte «Wer tanzt schon zu Musik von Schostakowitsch» zu den meistbewunderten Büchern, in Basel lasen Günter Grass und Peter Weber an einer eindrücklichen Geburtstagsfeier in der Komödie aus Jörg Steiners Werken, und man muss schon weit zurückblättern, bis man auf einen Schriftsteller stösst, der an seinem 70.Geburtstag so neidlos und einhellig als eine überragende Erscheinung gefeiert worden ist wie Jörg Steiner. Und doch: sitzt man ihm in seiner Bieler Schreibstube gegenüber und sucht ihn mit naseweisen Fragen zu Leben und Werk aus dem Busch zu klopfen, so erweckt Steiner keine Sekunde lang den Eindruck eines Stars der Literaturszene. Er ist herzlich und unprätentiös, eher unsicher und ratlos denn selbstbewusst und von sich eingenommen, und in den Ausstand tritt er nur dann, wenn er etwas über sein Privatleben sagen soll. «Ich verachte Home-Stories», lautet sein Credo, «ich habe tiefste Verachtung und auch Mitleid mit den Leuten, die sich dazu hergeben, weil sie es nicht besser wissen.»
Dennoch ist auch Jörg Steiner, wie er lächelnd bemerkt, «nicht plötzlich siebzig geworden». Er habe auch seine «Demütigungen und Beleidigungen» erlebt, und das empfinde er schon immer noch mit. «Man hat Glücksaugenblicke, man hat auch die andern. Man hat seine Verzweiflungen, über die man nicht spricht, die innern Auseinandersetzungen, manchmal das Gefühlt, überhaupt nichts zu können, jähe Euphorien, jähe Abstürze – und dass man das nicht hinausschreit, ist ja völlig klar, und dass man es in den Bücher spüren darf, ebenso.»
Früh schon war die Angst für Jörg Steiner eine ganz reale Erfahrung. «Die Fähigkeit, Angst zu haben, war mir angeboren. Sie hatte neben abstrakten, persönlichen, auch ganz reale Hintergründe. Ich bin 1930 geboren, ich war 1937 sieben Jahre alt. Und dieses siebenjährige Kind, das ich glaube gewesen zu sein, hörte zu Hause am Telefonrundspruch Stimmen. Das Kind verstand die Stimmen nicht, es hörte sie nur. Es hörte also Hitlers Reden, es hörte das Massengeheul der Nazis. Diese Stimmen machen mir heute noch Angst, und würde diese sich überschlagenden Stimmen z.B. einem türkischen Kind zum hören geben, es würde die gleichen Angstreaktionen zeigen wie ich damals.»
Obwohl Jörg Steiner – regelmässig sekundiert durch den Illustrator Jörg Müller – der Verfasser vieler wunderbarer Kinderbücher («Der Eisblumenwald » z.B. oder «Was wollt ihr machen, wenn der schwarze Mann kommt?») ist, fand er selbst in seinem Elternhaus keine Kinderbücher, sondern allenfalls die Alben der Firma Nestlé, Peter, Cailler oder den «Lederstrumpf» der Firma Steinfels-Seifen vor. Und doch war für ihn schon damals die Wirklichkeit der Bücher wichtiger als seine eigene. «Ich suchte aus den Ängsten, auch aus den diffusen, Ausflucht, Fluchtmöglichkeiten, Möglichkeiten, sich wegzubegeben. Aber ich brauche Bücher auch heute noch als Zuflucht, und ich denke mir, die jungen Leute erleben mit dem Internet dasselbe wie ich damals: Flucht und Zuflucht, Weggehen aus einer bestimmten Wirklichkeit in eine andere.»
Eine andere Möglichkeit, der engen Nachkriegsschweiz zu entkommen, war für den jungen Jörg Steiner der Jazz. Doch, doch, er spielte als angehender Lehrer auch klassische Musik, nahm Geigenunterricht, aber eigentlich nur, weil er dann am Samstagnachmittag in die Geigenstunde statt zu den Pfadfindern gehen konnte, vor deren abenteuerlichem Kollektivismus ihn das nackte Grausen packte. «Was am Jazz für mich wichtig war, war der Aufstand, das Rebellische – obwohl ich eigentlich nie das Rebellische gesucht habe, sondern immer etwas, was befreit oder andere, neue Möglichkeiten eröffnet, eben das Emanzipatorische.» Mit Pierre Sommer zusammen gehörte Steiner in Biel zu einem kleinen Freundeskreis, der sich an der Zeitschrift «Down Beat» orientierte und in Amerika die neusten Jazz-Platten bestellte. «Einen Monat später kamen aus New York dann diese Platten, und jeder wollte auch hören, was der andere bestellt hatte, und so traf man sich ganze Tage lang bei Pierre Sommer und hörte gemeinsam diese Musik, Charlie Parker z.B., die Konzerte von 1949, oder Lester Young.»
Jörg Steiner schrieb eigentlich, seit er sich erinnern kann, und das ging bis hin zu kleinen Sätzen am Rande des Tellers, wenn es die von ihm nur aus linguistischen Gründen geschätzte Buchstabensuppe gab. Erstmals wirklich gedruckt wurde er im «Bund». «Ich wollte auf einmal wissen, was andere zu meinen Gedichten sagen würden. Ich wollte endlich einmal eine Anwort hören, wie jemand, der in den Wald hinein ruft. Und so schickte ich die Gedichte Arnold Schwengeler vom ,Bund’, und hat gnädig, ein bisschen von oben herab, reagiert, druckte die Gedichte aber ab. Wichtig war für mich auch Hans Rudolf Hilty, der erste Prosa in der St.Galler Zeitschrift ,Hortulus’ publizierte, und so kam es wie von selbst, dass auch mein erstes Prosab üchlein, «Eine Stunde vor Schlaf», 1957 beim Tschudy-Verlag St.Gallen herauskam.
Wie ganz anders damals ein junger Autor aufgenommen wurde als heute z.B.eine Zoé Jenny oder ein Peter Weber, zeigt schlaglichtartig ein Brief, den Rudolf Jakob Humm in der Julinummer 1957 seiner Einmannzeitschrift «Unsere Meinung» unter dem Titel «Hilferuf eines jungen Lyrikers» abdruckte und worin Steiner den legendären Outsider des Literaturbetriebs um eine Rezension bat. «Ich glaube, es gab auch damals schon Debütanten, die gleich grossen Erfolg hatten», erinnert sich Steiner 43 Jahre später. «Aber in der Schweiz war es tatsächlich nicht so einfach. Ein Gedichtband bei Arche – da wäre man schon zufrieden gewesen. Was ich damals zu publizieren hatte, das waren im übrigen so Tastereien, Texte und Verse der Identitätsfindung. Denn ich bin spät erwachsen geworden, war ine Spätzünder in jeder Beziehung. Und wenn es anders gegangen wäre, so hoffe ich nur, dass ich den selben Widerstandswillen gehabt hätte wie Peter Weber oder auch Peter Bichsel, und mich nicht hätte vereinnahmen lassen. Der Literaturbetrieb ist mir auch heute noch unheimlich, der Betrieb, nicht die Literatur.»
Jörg Steiners erste Romane «Strafarbeit» (1962) und «Ein Messer für den ehrlichen Finder» (1966) verarbeiteten Erfahrungen, die er anfangs der Fünfzigerjahre als Lehrer in einem Schwererziehbarenheim gemacht hatte. Von Ausbruch und Befreiung handelt, wenn er auch nicht mehr in diese Gruppe gehört, auch der Roman «Das Netz zerreissen» von 1982, der den vielfach für Steiners gesellschaftskritisches Engagement angeführten Satz enthält: «Wer sich wehrt, zappelt im Netz, und dann, eines Tages, hast Du auf einmal die Kraft, das Netz zu zerreissen.» Auf diese politische Dimension seines Werks angesprochen, wehrt Steiner heute – zu Recht – ab: «Es sind auch diese frühen Werke nicht einfach auf ein soziales Engagement festzulegen. Es sind immer mehrere Stränge, die nebeneinander laufen, und wenn es nur soziales Engagement gewesen wäre, ohne Poesie, so wären diese Bücher nichts wert. Und ausserdem ist gerade eines jener Werke, das man gerne als spielerisch und experimentell abgetan hat, ,Schnee bis in die Niederungen’ von 1972, politisch sehr viel pointierter als die früheren Bücher.»
Dass die drei letzten Prosabücher – «Weissenbach und die anderen» (1994), «Der Kollege» (1996) und «Wer tanzt schon zu Musik von Schostakowitsch» (2000) – eine Entwicklung hin zu grösserer Verdichtung, subtilerer Verrätselung und virtuoserer Komposition erkennen lassen, bestreitet Steiner nicht. Aber er ist nicht bereit, diese Entwicklung als eine Entwicklung von einem grösserem zu einem geringeren gesellschaftlichen Engagement und entsprechend zu mehr Poesie und mehr Kunstfertigkeit anzuerkennen. «Widerstand leisten, das ist nach wie vor ein Thema. Das kann sozial sein, oder politisch, wie auch immer, notfalls auch Widerstand gegen sich selbst: Der Autor, der seine Figur in Schutz nehmen muss vor sich selbst oder vor dem Leser. Für mich geht es immer um die Wahrheit und um die Frage, wie lange die Halbwertszeit der Wahrheiten, jedenfalls der menschlichen Wahrheiten, dauert. Das gilt für alle meine Bücher, auch für die Kinderbücher. Ich schreibe einfach Bücher, und es muss gelingen, das, was wichtig ist, wie beiläufig zu sagen oder überhaupt nicht zu sagen und auszusparen, und ausserdem geht es mir um das Anschreiben gegen den Widerstand, gegen den Widerstand des Schreibenden, obschon ich diesen Widerstander andererseits wieder dringend brauche.»
Kaum je wurde ein Buch von Jörg Steiner so verschiedenartig verstanden und interpretiert wie sein jüngstes, «Wer tanzt schon zu Musik von Schostakowitsch». Eine Beobachtung, die den Autor in keiner Weise irritiert, sondern ihn im Gegenteil in seiner spezifischen Auffassung von Literatur und ihren Möglichkeiten bestärkt. «Ich denke, was ich ja manchmal bedaure, dass es nichts Eindeutiges gibt bei mir, dass es immer mehrdeutige, vielleicht auch nur zweideutige Sachen sind, die mir einfallen. Das ist im Grunde eine Qualität. Dass es eben nicht in eine Ecke zu stellen und abzuhandeln ist. Und etwas von dieser Mehrdeutigkeit kommt zum Ausdruck in diesen Besprechungen. Man kann das Buch lesen wie eine Detektivgeschichte, man kann aber auch davon ganz absehen und es als Psychogramm einer Bruderliebe darstellen. Je nachdem, wie es sich einem im Kopf darstellt, wird man es lesen.» Ein zentrales Motiv in dem Buch ist die Erkenntnis, dass nicht nur Geschichten, sondern auch die Geschichte erfunden werden könne. Ein Phänomen, auf das Steiner ganz besonderen Wert legt. So, wie er es sieht, setzt sich nämlich auch Geschichte zusammen aus Geschichten. «Und dabei ist, wie man bei der Geschichte der Juden in der Schweiz sehen konnte, nichts ein für allemal festgefügt. Es gibt nichts Objektives im Sinne von ,unantastbar’, ,für immer gültig’, und dies ruft nach Bescheidenheit. Ich bin kein Ideologiefeind, aber ein Dogmenfeind, und wenn etwas den Anspruch erhebt, die einzige gültige Wahrheit zu sein, dann werde ich misstrauisch.»
So ernst nimmt es Steiner mit dieser Erkenntnis, dass er nicht einmal in seinen Büchern etwas wie ein Besserwisser oder Allwissender sein will, wie es dem Autor nach althergebrachter Tradition eigentlich zustände. «Ich rücke die Geschichte weg aus der So-und-so-ist-es-gewesen-Perspektive. So könnte es gewesen sein, ist meine Formel. Auch ich habe meine Geschichten nicht als etwas Eindeutiges im Kopf. Ich könnte vielleicht das eine oder andere anders erzählen, aber wieder wäre es dann nur so, wie es hätte gewesen sein können. Ich bin der Schriftsteller, der nie sagt, wie es gewesen ist, sondern nur, wie es gewesen sein könnte, das ist immer so, in allem, was ich geschrieben habe. Es sind immer nur Vorschläge.» Konkret auf das letzte Buch bezogen, heisst das: «Mir fiel1997/98, als ich Stadtschreiber in Bergen-Enkheim war, eine Figur ein und ein Spiel mit dieser Figur. Das war die Figur Eisinger, die mir damals ins Bewusstsein trat und in meinem Kopf ein Eigenleben begann. Und der Bruder, an den ich am Anfang nicht gedacht habe, der taucht dann plötzlich auf, zuerst, als wie erfunden, dann als eine Figur, die Anrecht auf ein eigenes Leben hat. Die Geschichte entwickelt sich beim Schreiben. Wie ein Kind im Mutterleib.» Und wie wird Jörg Steiner seine Figuren wieder los, wie wird er wieder frei für eine andere Geschichte? «Durch Schreiben werde ich sie nicht los, nein. Ich werde sie dadurch los, dass Sie und andere Leserinen und Leser dieses Buch lesen und die Figur mit mir teilen. Ich werde sie los durch Teilen, nicht durch Schreiben. »
(Der Text erschien im Oktober 2000 im «Bund»)

Beitrag im Bieler Tagblatt vom 22.10.2020

Beitrag CH-Media vom 14.07.2021